Mittwinternacht
Bewusstsein dafür, dass alles miteinander zusammenhing, und dafür, dass man Teil des großen Erkenntnisprozesses der Menschheit war.
Jane war nun völlig entspannt und fror auch nicht mehr – es war, als ob sie ihre eigene innere Wärme produzierte. Oder als ob
etwas
diese Wärme für sie produzierte. Sie sah erneut zum Himmel hinauf, und genau in diesem Moment passierte das große Wunder.
Der Mond tauchte auf.
Zuerst nur als grauer Abdruck auf der Wolkendecke. Dann als so eine Art rauchumwirbelte Silberform: Die Göttin Luna raffte die Falten ihrer Wolkengewänder.
Und schließlich … als weißes Diamantfeuer im Herzen des Nebels.
Winterpracht.
Wahnsinn! Sie hat mich gehört.
Jane stand einfach nur da und zitterte vor Staunen und Begeisterung, sie war total hin und weg.
Cool!
Das war so richtig, richtig,
richtig
cool.
«Die Besuchszeit beginnt erst in einer Stunde», sagte Schwester Miller. «Es ist Teezeit, und die Patienten müssen in Ruhe etwas essen können. Am besten kommen Sie später wieder.»
Schwester Miller war eine Krankenschwester wie aus dem Bilderbuch: streng, zäh und alterslos. Merrily konzentrierte sich auf ihr erfahrenes Gesicht, weil der Anblick der Watkins-Station so verwirrend und bedrückend war. Nachts wäre es noch schwerer gewesen, wieder hierherzukommen.
Sie erklärte Schwester Miller, dass Schwester Cullen gesagt hatte, mit den Besuchszeiten würde es bei den Patienten in den Überwachungszimmern nicht so streng genommen.
«Wer ist es?»
«Kanonikus Dobbs.»
«Der alte Mann?», sagte Schwester Miller. «Sind Sie mit ihm verwandt?»
«Ich bin … eine Kollegin.»
«Meiner Meinung nach gehört er nämlich nicht mehr hierher, ganz gleich, was Dr. Bradley sagt. Warum kann sich nicht zu Hause jemand um ihn kümmern? Er belegt hier nur ein Bett.»
«Sie meinen, er hat sich wieder erholt?»
«Allerdings hat er sich erholt. Ich bin jetzt seit vierzig Jahren Krankenschwester, und Kanonikus Dobbs ist heute Morgen ohne Probleme aufgestanden und herumgelaufen. Er kann auch alleine essen. Und ich glaube, reden könnte er auch, wenn er wollte.» Schwester Miller wandte sich an Lol. «Fällt
Ihnen
vielleicht irgendein Grund dafür ein, aus dem er sich weigert zu sprechen?»
Lol dachte nach. «Vielleicht mag er keine Fragen im Stil von ‹Wie geht’s uns denn heute?›.»
«Sie haben zehn Minuten, nicht länger», sagte Schwester Miller.
Es war, wie an einem alten Grabmal zu beten. Er lag auf dem Rücken, starr und steif wie eine Steinfigur. Die Augen waren geschlossen. Man konnte nicht sehen, ob er atmete. Er hätte genauso gut tot sein können.
Also nur ein kurzes Gebet. Nichts Kompliziertes. Danach klopfte sich Merrily die Knie ab und setzte sich neben das Bett auf einen Stuhl.
«Hallo, Mr. Dobbs.»
Er rührte sich nicht. Er lag so unbeweglich da wie ein Felsbrocken. War er überhaupt wach?
«Wir haben noch nie richtig miteinander gesprochen. Ich bin Merrily Watkins.» Sie sprach langsam und leise. «Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.»
Lol lächelte ihr durch die Scheibe in der Tür zu. O. k., das war nicht gerade das Taktvollste gewesen, was man in einem Krankenhaus sagen konnte.
«Ich meine damit, dass ich beschlossen habe, das Amt als … Exorzistin nicht anzunehmen. Das wollte ich Sie nur wissen lassen.»
In Dobbs’ Zimmer herrschte eine Atmosphäre wie in einer düsteren Kapelle. Er verströmte einen leicht muffigen Geruch – wie alte Bücher in einem feuchten Lagerraum.
«Es tut mir leid, dass Sie hier liegen müssen. Es tut mir leid,dass wir nicht früher in der Kathedrale waren.» Sie erhob sich, um den Stuhl näher zu ihm zu ziehen, und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. «Noch mehr tut mir leid, dass Sie uns nicht sagen wollen, was Sie dort gemacht haben.»
Sie beugte sich ganz nahe zu ihm. «Es spielt für mich keine Rolle mehr – nicht auf der beruflichen Ebene. Ich bin raus, aber ich bin trotzdem ein bisschen getroffen, eigentlich sogar beleidigt. Ich
weiß
, dass Jesus Christus der erste Exorzist war. Allerdings ist die Hälfte der Weltbevölkerung weiblich, und mehr als die Hälfte der Menschen mit psychischen Problemen ebenfalls – jedenfalls erscheint es mir so. Ich bin davon
überzeugt
, dass es eines Tages einen weiblichen Exorzisten in dieser Diözese geben wird. Das wollte ich Ihnen trotz allem noch sagen.»
Keine Reaktion. Dennoch konnte er anscheinend herumlaufen und alleine essen. Sie wurde
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