Mittwinternacht
heiß.
Er dachte einen Moment lang nach. «Gut, ich hab mir was ausgesucht.»
«Sag mir nicht, was.»
«Warum nicht?»
«Weil …»
«Weil die kleine Jane nicht weiß, wo du bist?»
«Das interessiert die kleine Jane sowieso kein bisschen.»
«Ich glaube schon, Merrily. Ich sollte so etwas vermutlich nicht zu einem professionellen Gutmenschen sagen, aber wenn du dich mit ihr herumstreitest, bevor du selbst richtig durchblickst, könntest du es bereuen.»
«Du meinst, ich sollte versuchen herauszufinden, was sie tut – und mit wem?»
«Ich kann … dir vielleicht dabei helfen, wenn du willst.»
«Warum tust du das alles, Lol?»
«Da gibt es eine ganze Reihe von möglichen Gründen.» Lol stand dicht neben ihr, hatte seinen Blick aber über den Fluss unddie Lichter der Stadt gerichtet, die durch den Dunst schimmerten. «Du kannst dir einen aussuchen.»
Merrily seufzte. «Ich kann nicht mit dir schlafen, weißt du.» Sie sah im Licht der Laterne einfach umwerfend schön aus. «Nicht unter diesen Umständen.»
«Gott», sagte Lol traurig. «Der Typ muss echt für alles Mögliche die Verantwortung übernehmen.»
«Es liegt nicht an Gott.»
«Oh.» Er hätte sich am liebsten in den schwarzen Fluss gestürzt. «Das bedeutet, es liegt an jemand anderem.»
«Ja.»
Sie wandte sich von ihm ab. In dem Augenblick, bevor ihr Gesicht im Schatten verschwand, glaubte er Angst in ihren Augen zu sehen und einen Ausdruck des Ekels.
Aber er war schließlich paranoid. Das hatte er schwarz auf weiß!
«Ich fahre dich nach Hause», sagte Merrily.
32
Phantasiewelt
Jane riss ihr Schlafzimmerfenster auf. Feuchter Nebel zog herein, und sie begann zu husten. Es war fast wie mit Mom an einem heftigen Silk-Cut-Abend im Spülküchen-Büro.
Unten auf dem Rasen waren die letzten Schneeinseln geschmolzen. Schnee war sauber, hell und erfrischend. Nebel war das reine Elend. Es war der erste Dezember und damit nur noch drei Wochen bis zur Mittwinter-Sonnenwende, ab der man wieder daran glauben konnte, dass die dunklen Tage irgendwann ein Ende haben würden.
Kurz vor der Dämmerung war es immer am dunkelsten. Wie eine Mittwinternacht der Seele, dachte Jane. Sie räusperte sich.
Heil Dir, Du ewige Sonnenfürstin,
Deren Symbol nun in die Himmel steigt
Von wegen.
Heil Dir, von den Gestaden des Morgens
Im Garten am Abend zuvor war es doch so toll gewesen. Vielleicht war sie ein Nachttyp. Eine Mondfrau. Trotzdem war die Abendübung mit dem Resümee des Tages nicht besonders gut gelaufen.
Bevor ihr schlafen geht, solltet ihr den vergangenen Tag rückwärts vor euch ablaufen lassen. Fangt mit der letzten Sache an, die ihr getan oder gesagt habt, und geht dann immer weiter zurück, durch jede Einzelheit, als würdet ihr ein Empfindungsvideo eures Tages rückwärtslaufen lassen. Betrachtet jedes Ereignis distanziert, so als hätte eine andere Person es erlebt, und achtet darauf, wie eins zum anderen führt. Auf diese Weise entwickelt ihr ein Gespür für die Verkettung von Ursache und Wirkung. Die Rückschau befreit euch auch von dem einschränkenden Wahrnehmungsmuster Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft und zerstört das Lügengewebe, mit dem ihr normalerweise euer falsches Verhalten entschuldigt.
Es war unmöglich, so etwas durchzuhalten. Man wurde abgelenkt. Man dachte an etwas Interessantes und folgte dem Gedanken. Oder an etwas Schlimmes, zum Beispiel, dass Mom krank werden könnte und man bei Granny in Cheltenham landen würde, wo es ungefähr so toll war wie in einem stalinistischen Umerziehungslager.
«Solange deine Mutter im Krankenhaus ist, Jane, und du unter meinem Dach wohnst, tust du, was ich sage, und eine junge Dame geht mir nicht SO aus dem Haus.»
Oder man erinnerte sich daran,dass man einen coolen Typen gesehen hatte, und bekam, ganz egal, was Angela gesagt hatte, Angst, als alte Jungfer zu sterben. Rowenna schien solche Ängste nie zu haben – hatte sie etwa keine Hormone?
Etwas beruhigt schloss Jane das Fenster. Mom hatte gestern Abend nicht mehr so schlecht ausgesehen. Allerdings war sie ziemlich still und nachdenklich gewesen.
«Es geht dir überhaupt nicht gut! Das stimmt nicht! Du siehst sch …»
«Sag es nicht, okay?»
«Aber wenn es doch stimmt.»
Und echt, es stimmte. Dieser verschlissene alte Hausmantel und die Kippe im Mundwinkel. Das sollte eine Pfarrerin sein? Wie sie so auf der Treppe stand, sah sie eher aus wie eine alternde Nutte.
«Es liegt am Wetter», hatte
Weitere Kostenlose Bücher