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Mittwinternacht

Mittwinternacht

Titel: Mittwinternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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und vermied es sorgfältig, ihn anzusehen, indem er seinen Blick auf die Stadt heftete, in der unter einer orangebraunen Wolkenbank der Turm der Kathedrale immer noch mit der Kirchturmspitze von All Saints verschmolz.
     
    Sie legten die Krähe unterhalb der Wallanlage bei der alten Siedlung in eine Erdkuhle und bedeckten sie mit feuchtem Laub. Lol überlegte, ob er eine Art Gebet sprechen sollte, aber ihm fiel keins ein.
    «Du wirst wieder fliegen», sagte er lahm zu dem Blätterhaufen. «Das wirst du.»
    Er fühlte sich wie betäubt und vollkommen unzulänglich.
    Die arme Krähe. Die arme verdammte Moon.
    Sie stand auf. Am Saum ihres langen grauen Kleides klebte Schlamm. Als er ihr folgte, dachte Lol an Merrily Watkins, die er nicht gesehen hatte, seit er aus Ledwardine weggezogen war. Würde ein Pfarrer eine Trauerfeier für eine Rabenkrähe abhalten? Merrily schon, dachte Lol.
    Moon zog ihren dunklen Wollschal um sich. Stumm ging er hinter ihr auf dem schlüpfrigen Pfad entlang. Vor ihnen stand die mittlerweile altvertraute Eiche mit dem einzelnen toten Ast, der aus der Krone ragte wie ein ausgestreckter Finger aus einer Faust. Neben der Eiche führte ein weiterer steiler, verborgener Pfad zu Moons neuem Zuhause in seiner feuchten Senke.
    Als der Pfad eine Biegung nach links machte und der metallene Schornstein der Scheune über den Bäumen auftauchte, veränderte sich Moons Stimmung. In ihrer Miene spiegelte sich zweifelnde Hoffnung.
    «Ich kann es immer noch nicht glauben.» Sie blieb an einer Stelle stehen, an der sich der Weg in eine lange Reihe flacher Erdstufen verwandelte, denen Steine und verrottende Bretter Halt gaben. «Ich bin zurück. Ich bin tatsächlich zurück. Und sie
wollen
mich hier haben. Sie haben mir ein Zeichen gesandt. Ist das nicht einfach   …» Überwältigt schüttelte Moon den Kopf.
    Lol steckte in einer Zwickmühle. An seinen Händen klebten Gewebe und Blut der Krähe. Sollte er Denny von diesem Vorfall erzählen? Oder bloß Dick? Oder sollte er es am besten überhaupt nicht erwähnen?
    «Ich möchte jetzt ein bisschen schlafen, Lol», sagte Moon.
    «Gute Idee», gab er dankbar zurück.
    «Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut ich mich fühle.»
    «Gut», sagte Lol. «Das ist   … ähm   … sehr gut.»
     
    Als er mit dem alten Astra durch das kleine Industriegebiet von Rotherwas in die Stadt zurückfuhr, vermied er jeden Gedanken an die Episode mit der Krähe. Stattdessen lenkte er sich mit unwichtigen Überlegungen ab, zum Beispiel, ob er sich vielleicht ein Fahrrad kaufen sollte, um so fit wie Moon zu werden, die verkündet hatte, dass sie den gesamten Winter über sechs Tage die Woche zum Laden in der Capuchin Lane strampeln würde.
    Er parkte auf dem privaten Stellplatz hinter dem Laden. Der Parkplatz hätte Moon zugestanden, wenn sie ein Auto gehabt hätte. Dann ging er durch ein Gässchen in die Capuchin Lane. Das Sträßchen war eigentlich schon vor längerer Zeit in Church Street umbenannt worden, aber Moon und er mochten den alten Namen lieber.
    Es lebte sich wundervoll in dieser Straße. Sie war schmal, alt, mit Kopfsteinpflaster, für den Verkehr gesperrt und von kleinen Läden und Pubs gesäumt, bis sie an der Kathedrale endete. Von dieser Straße aus wirkte der Anblick der Kathedrale, als befände man sich noch im tiefsten Mittelalter, vor allem in der Morgendämmerung oder gegen Abend, wenn die Läden schlossen und die über die Straße ragenden Ladenschilder nur noch als schwarze Umrisse zu erkennen waren.
    Das Apartment über dem Laden namens John Barleycorn – einem der Läden von Moons Bruder – war ziemlich heruntergekommen gewesen, als Moon zum ersten Mal darin gewohnt hatte. Das war während ihrer Zeit bei der archäologischen Grabung auf der Domfreiheit, bevor der Grabungsbezirk für die Errichtung eines neuen Gebäudes für die
Mappa Mundi
und die
angekettete
Bibliothek
freigegeben worden war. Mehr als eintausend Skelette waren ausgegraben worden, und Moon hatte ihre Tage zwischen den Toten und ihre Nächte auf einem Feldbett in diesem Apartment zugebracht und war jeden Morgen zur Kathedrale gelaufen, als würden sich ihre Träume dort in der Realität fortsetzen.
    Sie bewahrte ein Foto von sich auf, das in dem breiten Gebeingraben aufgenommen worden war, den sie gefunden hatten. Sie hielt zwei Totenschädel aus mittelalterlicher Zeit in den Händen – und es sah so aus, als würden sie fröhlich zu dritt in die Kamera grinsen. Als die Grabung beendet

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