Mittwinternacht
den derzeitigen Besitzern des Bauernhauses und der denkmalgeschützten Nebengebäude gewesen und hatte den Mietvertrag für die Scheune unterschrieben.
«Sieh es doch mal so, Denny»
, hatte Dick Lyden gesagt.
«Du verbindest vielleicht schreckliche Erinnerungen mit dem Hügel, aber sie war damals noch ein kleines Kind. Sie erinnert sich an gar nichts. Sie betrachtet das als eine Art Geburtsrecht, das man ihr genommen hat. Möglicherweise hat ihre Rückkehr auf den Hügel – dorthin, wo der alte Bauernhof der Familie ist – sogar eine heilsame Wirkung. Wer kann das vorher wissen? Wenn ich du wäre, Denny, und meine Gefühle nicht verbergen könnte, dann würde ich ein bisschen Abstand von ihr halten. Nachdem sie es jetzt gemacht hat, wäre es nicht gut für sie, wenn sie es mit deinen negativen Ahnungen zu tun bekommt.»
Und dann hatte Dick gesagt:
«Ich sag dir was: Warum fragen wir nicht Lol, ob er sie ein bisschen im Auge behalten kann? Das ist der friedliebendste Typ, den ich je getroffen habe.»
Er hatte Lol auf die Schulter geklopft.
«Sie darf sich nicht bedroht fühlen, verstehst du? Es darf keinerlei Druck auf sie geben – das ist das Wichtigste.»
Und so war Lol Robinson, Ex-Rockstar (jedenfalls beinahe), Gelegenheits-Songschreiber und früherer Psychiatriepatient, zu Moons Betreuer geworden. Vermutlich hauptsächlich deshalb, weil kein anderer die Verantwortung übernehmen wollte.
Aber das war o. k. Lol konnte ein bisschen Verantwortung gut brauchen. Es war alles in Ordnung.
Bis jetzt.
Es hatte wieder angefangen zu regnen. Tropfen rannen über Lols Brillengläser und ließen Moons hüftlanges Haar wie einen glänzenden Strom erscheinen, der ihr schwarz über den Rücken floss.
Genauso schwarz wie die tote Krähe, die sie da festhielt.
Moon hatte sich inzwischen an den Baum gelehnt und hielt den Vogel in der rechten Hand.
«Moon?» Lol trat einen Schritt zurück, stolperte, fiel auf die Knie und sah zu ihr hoch. Sie war so schön. Ihre großen Augen blickten so durchdringend wie die einer Eule.
«Sieh mal», sagte sie.
Auf ihrem Kleid breitete sich vom Magen bis zum Schritt ein Blutfleck aus, der jetzt schon die Größe eines Tellers hatte.
«Sie ist mir tot vor die Füße gefallen», sagte Moon, «direkt vom Himmel herunter. Ist das nicht unglaublich?»
«Ist es das?», sagte Lol schwach. Entsetzt beobachtete er, dass sie ihre linke Hand, die ohnehin schon bis zum Handgelenk blutverschmiert war,
in
den Vogelkörper steckte. Lose Federn klebten an dem Blut auf ihrem Kleid.
«Die alten Kelten haben die Krähe oder den Raben als heiligen Vogel angesehen, der ihnen die Zukunft vorhersagen konnte.» Moon sprach, als würde sie sich nicht an eine einzelne Person, sondern an eine Studentengruppe im Seminarraum wenden. «Der Heros Bran war möglicherweise eine Personifikation des Rabengottes. Es gab auch einige Krähen- oder Rabengöttinnen: Macha, Nemain, Badb und Morrigan.»
Lol stand auf, ging aber nicht auf Moon zu.
«Sie ist mir tot vor die Füße gefallen», wiederholte Moon. «Sieist ein Geschenk – von den Ahnen. Sie grüßen mich am Tag meiner Heimkehr.»
«Wie ein Mitbringsel zur Wohnungseinweihung», rutschte es Lol heraus.
Er erwartete, dass sie wütend werden würde, doch sie lächelte ihn mit glänzenden Augen an.
«Genau!» Sie sah Lol direkt ins Gesicht und fing an zu weinen. «O Lol, ich kann es gar nicht in Worte fassen. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr …»
In diesem Moment zog sie die Hand aus der Krähe. Zwischen ihren Fingern hingen Organe, Innereien und blutiger Schleim.
Lol wurde schlecht. «Moon, das ist ein Geschenk …»
«Das Geschenk», sagte Moon fröhlich, «ist die Gabe der Prophetie! Und des zweiten Gesichts. Die Krähe hat übernatürliche Kräfte besessen. Sie wurde geachtet, gefürchtet und verehrt. Als diese Krähe vom Himmel gefallen ist, war sie noch warm, und sie hatte eine kleine Wunde am Bauch, und ich habe meinen kleinen Finger in die Wunde gesteckt, und es ist einfach …»
«Warum hast du das getan?»
«Weil es so
bestimmt
war, natürlich! Indem ich meine Hände in ihrem Blut bade, gehen ihre Kräfte auf mich über. Es gibt eine Sage von Cuchulainn, in der er das tut. Aber ich …» Sie streckte Lol den Vogel entgegen. «Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll.»
«Sie beerdigen?», sagte Lol hoffnungsvoll.
Und Moon nickte, unter Tränen lächelnd.
Lol ließ sich den verstümmelten Vogel in die Hände legen
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