Mittwinternacht
sein Gewehr genommen, um noch ein letztes Mal über unser Land zu gehen. So was tun Bauern, wenn sie glauben, ihre Ahnen enttäuscht zu haben.»
«Wie … hm …?» Lols Mund war trocken. Er setzte sich auf eine andere Bücherkiste. «Wie geht es dir jetzt, wenn du an deinen Vater denkst?»
Moon drehte sich zu Lol um. Ihre Augen glänzten. «Ich muss ihm meine Hand reichen. Die Ahnen haben mir die Fähigkeit verliehen, das zu tun, okay?»
Die Krähe.
«Indem ich meine Hände in ihrem Blut bade, gehen ihre Kräfte auf mich über.»
«Sie haben ihn zurückgeschickt. Er weiß nicht warum, aber er wird es erfahren. Er muss mich kennenlernen – das kommt als Erstes. Ich muss ihm klarmachen, dass ich ihm nichts vorwerfe.»
«Hast du kein bisschen … Angst?»
«Er ist mein Vater. Und ich bin seine einzige Hoffnung darauf, Frieden finden zu können. Er weiß, dass er eine Menge gutzumachen hat. Auch Mommy gegenüber, aber darauf haben wir jetzt keinen Einfluss mehr.»
Sie schwieg, und der Glanz in ihren Augen erlosch.
«Deine Mom … Hast du das Gefühl, dass
sie
ihren Frieden gefunden hat?» Lol wusste nicht, weshalb er diese Frage gestellt hatte, außer um sie wieder zum Reden zu bringen.
«Ich weiß nicht. Sie war danach nie mehr dieselbe. Ich meine,sie hatte mein ganzes Leben lang schwache Nerven. Ich hatte Glück, dass Denny damals praktisch schon erwachsen war und sich um alles kümmern konnte. Es war Denny, der mich immer ermahnt hat, mich in der Schule anzustrengen. Er wollte, dass ich auf die Uni gehe, weil er es nie konnte. Er hat Vaters Rolle übernommen, verstehst du? Er schuldet auch Denny was, finde ich.»
«Und wie kann er es wiedergutmachen?», fragte Lol sanft. «Wie kann dir dein Vater helfen?»
Sie blinzelte ihn an, als wäre die Antwort allzu offensichtlich. «Mit meinem Buch natürlich – meinem Buch über das Volk von Dinedor. Er kann mir bei dem Buch helfen. Er kann dafür sorgen, dass sie zu mir sprechen. Sie haben ihn zu mir geschickt, also muss ich es auch schaffen können, durch ihn Kontakt mit ihnen aufzunehmen.»
«Mit ‹ihnen›?»
«Mit den Ahnen.»
Die Scheune war mit ihren vier Räumen nicht besonders groß. Sie war von den derzeitigen Besitzern des Bauernhofes zur Ferienwohnung umgebaut worden. Die Leute hießen Purefoy und lebten von Bed-and-Breakfast-Vermietungen. Diesen Sommer war es nicht sehr gut gelaufen, und den Purefoys war klargeworden, dass mehr für sie herausspringen würde, wenn sie auf längere Zeit vermieteten.
Moon war mit dem Mountainbike heraufgekommen, das ihr Denny nach dem Ladendiebstahl gekauft hatte. Es war heiß gewesen, und sie hatte gerade ihr Fahrrad auf die alte Ansiedlung zugeschoben, als sie mit einem Mal hörte, wie ihre Ahnen nach ihr riefen.
«Es war eine unglaubliche Erfahrung. Vielleicht so ähnlich wie das Gefühl, das Alfred Watkins hatte, als er diese Linien in der Landschaft
entdeckte. Bloß dass mir nur eine einzige Verbindungslinie bewusst wurde, nämlich die Linie, die von mir zum Hügel und von dort aus durch die Jahrhunderte zurückführt. Der Hügel hat unter meinen Füßen vibriert. Ich habe gezittert. Mir wurde klar, dass all die Jahre, in denen ich Leute ausgegraben hatte, eine Vorbereitung auf genau diesen Moment gewesen waren. Zuvor war es nur um Knochen gegangen. Aber jetzt will ich
echte Menschen
ausgraben. Ich will mit ihnen in Verbindung treten. Ich weiß seit diesem Augenblick, dass es meine Aufgabe ist, die Geschichte des Hügels und des Volkes von Dinedor herauszufinden. Es war wirklich unfassbar. Ich habe mich so leicht gefühlt wie ein Schmetterling.»
Danach hatte Moon bis zur Abenddämmerung fast verzweifelt an die Türen der Bauernhäuser und Cottages rund um den Hügel geklopft, um herauszufinden, wer darin lebte und wer in früheren Generationen hier gelebt hatte. Sie entdeckte, dass die älteste Dinedor-Familie, genau wie sie vermutet hatte, ihre eigene war. Moon ging davon aus, dass ihre Familie von der Ursprungssiedlung abstammte, die lange vor Christus auf dem Dinedor Hill bestanden hatte.
Nun aber lebte niemand mehr dort. Ihr Vater hatte die Verbindung gekappt.
Die Sonne ging schon beinahe unter, als Moon bei der Dyn Farm ankam, dem schönen alten Bauernhaus in der Nähe der Siedlung, und die Purefoys – Leute aus London, die sich früh aus der Arbeitswelt zurückgezogen hatten – im Garten traf.
«Du weißt ja, dass ich normalerweise ziemlich zurückhaltend bin, es sei denn,
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