Mittwinternacht
ich habe mir etwas vorgenommen. Am Anfang waren sie nicht besonders freundlich, aber als ich ihnen erzählt hatte, wer ich bin, haben sie sich unheimlich gefreut und mich ins Haus gebeten. Sie haben mir gleich alle möglichen Fragen zu dem Haus gestellt, die ich natürlich nicht beantworten konnte. Ich war schließlich noch ein Kleinkind, als wir weggezogen sind.
Dann haben sie mir die Scheune gezeigt. Und ich hatte das Gefühl, dass mein ganzes Leben auf diesen Moment hin ausgerichtet war.»
Moon durchquerte den Raum und stellte sich so nahe vor Lol, dass er ihre Brustwarzen durch das Nachthemd sehen konnte. O Gott! Er heftete seinen Blick auf ihr Gesicht.
«Ich wollte ihm sagen – meinem Vater –, dass alles in Ordnung ist, dass ich es bin, dass ich zurückgekommen bin. Ich wollte ihm sagen, dass ich ihm helfen würde, seinen Frieden zu finden.»
«Du hast versucht, mit ihm zu reden?»
«Gestern Abend nicht. Ich bin nicht nahe genug an ihn herangekommen. Das war beim ersten Mal … letzten Samstag. Ich hatte ein bisschen geschlafen und bin dann in den Wald gegangen, dorthin, wo er sich erschossen hat. Als ich ankam, war es schon dunkel.»
«Und dort hast du ihn gesehen?»
Das ist gruselig. Das ist überhaupt nicht gut.
«Ich habe ihn nicht
gesehen
. Deshalb habe ich ja angefangen, nach ihm zu rufen.»
«Im wörtlichen Sinn?»
«Vermutlich. Ich erinnere mich daran, im Wald gestanden und ‹Daddy!› gerufen zu haben, als wäre ich wieder ein kleines Kind. Es war komisch.»
Lol sagte zögernd: «Und glaubst du … hm … dass so etwas sicher ist? Ich meine, du warst ganz allein.»
«Oh, auf dem Hügel wird mir ganz bestimmt niemals was passieren. Ich habe vor, Tag und Nacht dort herumzulaufen, bis ich jeden Baum und jedes Gebüsch in diesem Wald kenne, jede Senke und jede Lichtung. Ich muss all diese Jahre ausgleichen, in denen ich nicht da war, verstehst du? Ich muss richtig in diesen Hügel hineinschmelzen – bis er ein Teil von mir geworden ist. Bis er mir im Traum erscheint.»
«Also war das, als du … ihn gesehen hast, eine Art Traum, oder?»
Sie sah auf ihn hinunter. Ihr Nachthemd roch nach Schweiß und Mottenkugeln. Ihr Haar hing rechts und links über ihre Schultern, als wäre es eine Stola.
Sie sagte: «Sollst
du
jetzt meinen Therapeuten spielen, Lol?»
«So kann man es nicht sagen, jedenfalls nicht offiziell. Ich unterstütze Dick nur ein bisschen.»
«Dick ist ein hoffnungsloser Fall! Eine komplette Niete. Er glaubt an nichts, was nicht in seinen Psychologie-Lehrbüchern steht.»
«Er ist ein netter Typ», sagte Lol unbeholfen. «Er gibt sein Bestes für dich.»
«Er ist ein Idiot. Wenn du Dick erzählst, dass ich meinen Vater gesehen habe, kommt er gleich mit einer super Theorie über Halluzinationen oder Drogen an. Aber du siehst ja, dass ich hier keine Drogen habe. Ich brauche hier oben nichts; es ist, als wäre ich hier irgendwie auf natürliche Art ständig high. Außerdem wäre es so was wie eine Beleidigung, hier Drogen zu nehmen.
Und
ich habe noch nie Halluzinationen gehabt.»
Ihre Haare glitten nahe an seinem Gesicht vorbei. Es waren solche Haare, wie die mittelalterlichen Jungfrauen von hochgelegenen Fenstern herabhängen ließen, damit die Ritter daran hochklettern und sie retten konnten.
«Also ist es nichts Offizielles», sagte sie. «Ich meine uns beide: Wir sind nicht Berater und Patientin oder so.»
Lol kam durcheinander. Er spürte, dass er rot wurde.
«Es ist
ein bisschen
offiziell», sagte er.
«Musst du Dick Bericht erstatten?»
«Vermutlich.»
«Wirst du ihm von dieser Sache erzählen?»
«Nicht, wenn …»
Moon wandte sich ab, tauchte wie ein Fischreiher zwischen zwei Kartons hinunter, kam mit einer dunkelgrünen Strickjacke wieder hoch und zog sie über.
«Dann war es ein Traum.» Sie schmollte ihn an wie ein aufsässiges Kind. «Es war alles nur ein Traum.»
7
Friedhofsengel
Eine rätselhafte Einbestellung in den Bischofspalast.
Mittwochnachmittag: Markttag und die Stadt voller Leute. Merrily fand einen Parkplatz in der Nähe des
Black Lion
in der Bridge Street. Vielleicht hätte sie auch in den Innenhof des Bischofspalastes fahren können, aber das wäre ihr möglicherweise als Anmaßung ausgelegt worden. Das wollte sie auf keinen Fall – am liebsten wäre sie sogar unsichtbar gewesen, als sie sich in ihrem schwarzwollenen Kostüm, mit einem grauen Seidenschal über dem Hundekragen, zwischen den Einkäufern
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