Mittwinternacht
Torhaus. Ein größeres mit Blick auf die Broad Street … und das hier.
Niedrige Decke, weißgekalkte Fachwerkwände, ein Tisch mit einem Telefon. Ein abgewetzter, drehbarer Kapitänsstuhl, zwei Aktenschränke, ein niedriges Regal mit einer Bibel und ein paar Titeln zur Lokalgeschichte, einschließlich Janes ehemaliger Bibel
Die volkstümlichen Überlieferungen in Herefordshire
von Elly Mary Leather.
Zögernd ging Merrily zum Fenster hinüber, das auf den Innenhof und die ehemaligen Stallungen hinausging. Ein paar Autos parkten neben aufgeschichtetem Kaminholz.
«Willkommen im Exorzistenturm», sagte Sophie ausdruckslos. «Der Computer ist bestellt.»
Leicht überwältigt lief Merrily kurz darauf im Sonnenschein durch die Broad Street und spürte die Hand des Schicksals so schwer auf ihrer Schulter liegen, dass sie fast den Arm hochgeworfen hätte, um sie abzuschütteln.
Die Atmosphäre in dem Torhaus war gut gewesen, fast gemütlich. Mitten in der Stadt gelegen und doch weit weg von ihr – ein Rückzugsort, ein Adlerhorst. Es hatte sich richtig angefühlt.
Vorsicht. Lass dich nicht gleich bei der ersten Verabredung verführen.
Sophie hatte gesagt, dass der Bischof Merrily eigentlich hatte sehen wollen, doch Mrs. Hunter hatte einen wichtigen Termin gehabt, und ihr Auto war in der Werkstatt. Das schien zu stimmen,denn Merrily hatte vom Fenster aus gesehen, wie Mick im Klerikerhemd unter einer Jacke, die schwer nach Armani aussah, mit seiner Frau zu einem staubigen dunkelgrünen BMW ging. Val Hunter war groß, fast so groß wie der Bischof. Hager, stolz, das hellbraune Haar zurückgenommen, eine Schönheit mit gutem Stammbaum. Sie hatten zwei Söhne im Internat, auch wenn Mick in einem Interview mit dem
Observer
eingeräumt hatte, dass seine Gefühle in Bezug auf Privatschulen sehr gemischt waren. Merrily vermutete, dass seine Frau da eindeutigere Gefühle hatte.
«Er muss sich in seiner Rolle als Bischof erst noch richtig zurechtfinden», hatte Sophie ihr anvertraut, «aber er will Veränderung, und ich fürchte, es wäre eine schreckliche Enttäuschung für ihn, wenn Sie diesen Posten nicht annehmen, Mrs. Watkins. Er sieht darin einen sehr bedeutungsvollen Schritt für die weibliche Geistlichkeit.»
Als sie am Ende der Broad Street angekommen war, blieb Merrily vor der Auslage eines Juweliergeschäftes stehen. In der Scheibe sah sie sich selbst und all die Passanten gespiegelt, die hinter ihr vorbeiströmten – ein Mann mit einer Aktentasche warf über die Schulter einen Blick auf ihre Beine.
Sie begann zu zittern. Sie brauchte eine Zigarette.
Dann allerdings überkam sie ein noch stärkeres Bedürfnis: Sie musste beten.
Und zwar gleich.
Unvermittelt, als folge sie einem hypnotisierenden Befehl, ging sie in Richtung der Kathedrale zurück, überquerte eilig den Rasen und legte sich mit einem Anflug von Schuldbewusstsein ihren Schal wieder über den Priesterkragen. Sie wollte nicht erkannt werden, niemand sollte sie ansprechen.
Als sie kurz vor dem Eingang war, überlegte sie, ob sie um die Kathedrale herum zu den Klostergebäuden gehen sollte, um die erstbeste Person, die sie traf, nach der Wohnung von KanonikusDobbs zu fragen. Doch der Drang zu beten war zu stark, er schien ihren ganzen Körper zu erfüllen.
Sie atmete aus.
O Gott!
Das passierte ihr nur selten. Zum Beispiel an dem Tag, an dem sie mit rasenden Kopfschmerzen kreuz und quer durch die Gegend gefahren war, bis sie schließlich, in dem Moment, in dem sie das Gebet dringend brauchte, auf einen Weg geriet, der zu einer winzigen Kirche führte, die einem längst vergessenen keltischen Heiligen geweiht war. Sie hatte gerade die schmutzigen Details über Seans Geschäfte herausgefunden – und dann war sie in der kleinen Kirche plötzlich in diese köstliche Vision aus Blau und Gold eingetaucht, und vor ihr hatte sich ein heller Pfad aufgetan.
Eine Frauengruppe ging in die Kathedrale. «Können wir nicht in ein Café gehen?», nörgelte eine der Frauen.
Merrily hätte sich am liebsten an ihnen vorbeigedrängt, doch dann blieb sie an ihrem Platz am Ende der Schlange, während die Frauen einzeln die Vorhalle betraten. Als Merrily selbst in der Kathedrale war, hatten sich die Frauen schon in den Gängen verteilt, und ihre zwitschernden Stimmen hallten von den heiligen Mauern wider.
Und sie stand einfach da und war ganz kribbelig vor Verlangen, sich ins Gebet zu versenken.
«Willkommen in der Kathedrale von Hereford.» Eine
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