Mittwinternacht
gemessene Stimme erklang aus dem Verstärker vorne an der Kanzel. Es war der diensthabende Kaplan. «Wenn Sie bitte Platz nehmen würden, wir beginnen unsere Führung mit einem kurzen Gebet. Danke sehr.»
Schwitzend und beinahe panisch stolperte Merrily durch den nächstbesten Durchgang und kniete in der wohltuenden Dämmerung der Seitenkapelle des Bischofs John Stanbury aus dem fünfzehnten Jahrhundert nieder. Vor ihr erhob sich das goldschimmerndeTriptychon, und die Formen des kunstvoll ausgemeißelten Deckengewölbes und der Wände wirkten fast wie Pflanzenornamente in einer Kaskade goldfarbenen Steins.
Als sie ihre Hände faltete, spürte sie, dass sich die winzigen Härchen auf ihren Handrücken wie elektrisiert aufrichteten.
«Gott», flüsterte sie. «Was ist das? Was
ist
das nur?»
Dieses Empfinden von unglaublichen Möglichkeiten: alle Antworten auf alle Fragen nur noch einen winzigen Augenblick entfernt, ein Zeitatom entfernt, hinter einer hauchdünnen Membran.
«Da gibt es dieses Foto von ihr», sagte Jane. «Sie wollte es wegwerfen, aber ich habe es aus dem Müll geholt, für den Fall, dass ich es irgendwann mal als Druckmittel gebrauchen könnte. Ich glaube, sie weiß, dass ich es habe, aber sie hat noch nie etwas darüber gesagt.»
Sie gingen am Tennisplatz der Schule vorbei, dessen Netze für den Winter abgebaut worden waren, zum Oberstufenparkplatz, wo Rowennas Fiesta stand. Er war sechs Jahre alt und lindgrün, aber abgesehen davon ganz prima.
«Sie trägt darauf so ein Kleid, das echt genau aussieht wie ein Müllsack. Und die Haare hat sie irgendwie mit diesen Plastikdingern hochgewürgt. Außerdem hat sie diesen weißen phosphoreszierenden Lippenstift drauf. Und über die Augen hat sie sich ungefähr drei Familienpackungen Billig-Lidschatten geschmiert.»
Rowenna schüttelte mitleidig den Kopf.
«Und ihre Lieblingsband», sagte Jane, «war Siouxsie and the Banshees.»
«Hör bloß auf», sagte Rowenna mit gequälter Stimme.
«Na ja, so schlecht waren sie eigentlich auch wieder nicht.»
Rowenna schloss den Fiesta auf. «Du könntest das Bild immer noch an die Boulevardpresse verkaufen.»
«Ja, aber erst muss sie was Umstrittenes machen, damit sie an dem Foto überhaupt interessiert sind. Bloß die nächste weibliche Pfarrerin, die früher mal Punk war, reicht nicht, oder? Ich schätze, ich könnte damit zur
Hereford Times
gehen.»
«Und die würden dir dafür bestimmt genug Geld für ein paar nette CDs geben.»
«Ja, runtergesetzte.» Jane setzte sich auf den Beifahrersitz. «Nein, weißt du, was ich eigentlich sagen wollte? Du siehst dir dieses Foto an und erkennst schon irgendwie die zukünftige Pfarrerin. Verstehst du, was ich meine? All das Düstere und die Rituale und so weiter.»
«Was? Ist sie so eine Art Messgewand-Fetischistin?»
«Nein! Es ist nur … Oh shit!»
Dean Wall und Danny Gittoes, die dümmsten Penner aus Ledwardine, waren zum Auto gekommen. Deans stumpfsinnige Visage klebte fast am Beifahrerfenster. Jane kurbelte es herunter. Dean setzte seinen anzüglichen Blick auf, den er offenbar für einnehmend hielt.
«Nehmt ihr uns mit nach Hause, Ladys?»
«Heute nicht, okay?», sagte Rowenna.
«Um genau zu sein: weder heute noch sonst irgendwann.» Jane kurbelte das Fenster wieder hoch. «Soll keine Beleidigung sein, aber wir wollen eben lieber
nicht
vergewaltigt in einem ausgebrannten Auto enden, wenn ihr nichts dagegen habt.»
Dean sagte gerade: «Du kannst mich mal, du blöde Sch …», als Jane die Scheibe das letzte Stückchen hochkurbelte.
«Bleifuß, Ro.»
Lächelnd fuhr Rowenna los.
«Gut gemacht, Kleine. Danke.»
Rowenna war neu in der Schule, aber fast zwei Jahre älter als Jane. Weil ihre Familie oft umgezogen und sie häufig krank gewesen war, hatte sie sehr viel verpasst und musste die Klasse wiederholen.Sie war ziemlich cool, und Jane sah sie als eine Art ältere Schwester an, was Rowenna gut zu gefallen schien.
«Das heißt doch nicht», sagte Jane verblüfft, «dass du diese beiden Kotzbrocken schon mal mitgenommen hast, oder? Wie hast du denn danach den ganzen schleimigen Glibber von den Sitzpolstern abgekriegt?»
Rowenna lachte. «Ich sehe ein, dass es ein Riesenfehler war, und ich mache es bestimmt nicht nochmal. Was hast du grade über deine Mutter gesagt? Ich hab nicht ganz mitbekommen, wo eigentlich das Problem liegt.»
«Ach, es ist bloß …», Jane legte die Hände über Nase und Mund und seufzte hinein, «… sie
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