Mittwinternacht
könnte was viel Besseres machen, das ist alles. Verstehst du, was ich meine?»
«Ich geb mir Mühe.» Rowenna fuhr mit lässigem Selbstbewusstsein. Schon in kurzer Entfernung von der Schule kamen sie ins offene Land mit seinen bewaldeten Hügeln und Obstpflanzungen.
«Aber echt, die Kirche von England! Ich meine, was kann man schon von einer Institution erwarten, die nur eingerichtet wurde, damit Heinrich VIII. seine Frau betrügen kann? Spirituell ist das bloß eine Bande von Wichsern, und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ordination von Frauen daran irgendwas ändert.»
«Ich schätze, sogar die Katholiken haben
irgendwas
gemeinsam.» Rowennas Vater war Offizier, möglicherweise bei einer von diesen SA S-Spezialeinheiten , und die Familie hatte einige Zeit in Nordirland gelebt.
«Aber weißt du, was mir nicht aus dem Kopf geht?» Jane beugte sich vor und verschränkte die Finger. «Ich stelle sie mir in vierzig Jahren vor, wie sie in einem Wohnheim für pensionierte Geistliche am Gasofen sitzt und ihr alles wehtut, weil sie von dem ewigen Geknie auf den kalten Steinböden Arthritis gekriegt hat,und wie sie sich fragt: ‹ Wozu war das alles verdammt nochmal eigentlich gut?›»
Rowenna lachte. Es klang wie klirrende Eiswürfel in einem Cocktailglas. Sie wirkte zart und unschuldig, war in Wirklichkeit aber ziemlich gerissen.
«Und erst dieser Exorzisten-Trip.» Jane wusste, dass sie darüber nicht reden sollte, aber Rowennas quasi militärischer Hintergrund – Hochsicherheitsüberwachung und all solches Zeug – bedeutete, dass man ihr etwas anvertrauen konnte, ohne dass sie es herumtratschte. «Sie findet das total spitzenmäßig und glaubt wahrscheinlich, dass es sie
näher
dranbringt. Verstehst du?»
«An die spirituelle Welt?»
«Aber in Wahrheit passiert genau das Gegenteil. So wie ich es sehe, geht es nämlich darum, die Leute davon
abzuhalten
, näher dranzukommen. Sie muss jeden Kontakt mit dem Okkulten oder dem Mystischen unterbinden – eigentlich mit allem, was
interessant
ist. Ich finde das irgendwie unmoralisch, oder?»
«Es ist irgendwie faschistisch», sagte Rowenna.
«Wenn man ehrlich ist, bringt jede andere spirituelle Erfahrung mehr Spaß als ein Besuch im Gottesdienst.»
«Da würde ich nicht widersprechen.»
Und dann war es wie immer mit einem Schlag vorbei.
Manchmal blieb Merrily danach in einer wohlig-friedlichen Stimmung zurück, manchmal mit einem fast körperlich schmerzenden Gefühl der Leere. Dieses Mal war da nur Stille, erfüllt von den Bildern der Kathedrale und der Darstellung der Brücke über den Wye in dem kleinen Bleiglasfenster über ihrem Kopf.
Merrily erhob sich in der intimen Atmosphäre der luxuriösen Kapelle des Bischofs Stanford mit leicht zittrigen Beinen. Dann stand sie einen Moment lang da, ließ die Arme locker herabhängenund atmete langsam ein und aus. Es war wie Sex: überwältigend für den Moment, doch was veränderte er schon?
Draußen, im Hauptschiff der Kathedrale, begann die Touristengruppe mit der Besichtigung. Merrily stand ruhig im Durchgang zu der Kapelle und hielt ihren grauen Seidenschal in der Hand.
«Gehen Sie weg.
Gehen Sie.
» Ein paar Schritte entfernt erhob sich eine ungeduldige Männerstimme. «Ich kann das unmöglich hier besprechen.»
«Aber ich verstehe nicht …» Nun sprach eine aufgeregte Frau. «Was habe ich denn falsch gemacht?»
«Ruhig!»
Das Geräusch stolpernder Schritte. Merrily trat ganz aus der Kapelle und sah eine etwa sechzigjährige Frau, die schwer einatmete, einen Ausruf unterdrückte und sich dann eilig umdrehte, um in Richtung des Ausgangs zu gehen, der zum Souvenirshop der Kathedrale führte. Sie trug einen Tweedmantel, Stiefel und eine Samtkappe.
Der Mann sah ihr vom Seitenschiff neben der Kapelle aus nach.
Merrily sagte: «Es tut mir leid. Ich wollte nicht …»
Er trug einen langen Mantel. Er warf ihr einen Blick zu. «Ich glaube, Ihre Gruppe ist drüben in der Marienkapelle.»
Dann bemerkte er ihren Kragen, und Merrily bemerkte seinen, genauso wie den Rand der Soutane unter seinem Mantel. Und sobald sie die kalte Erkenntnis in seinen hellen Augen und der versteinerten Miene wahrnahm – der Miene eines altertümlichen, verwitterten Friedhofsengels –, wusste sie, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wer er war.
Und bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, hatte sie die Worte schon ausgesprochen. Unter diesen Umständen war es vermutlich das Dümmste, was
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