Mittwinternacht
husten. Dann warf sie einen Blick zu dem bräunlichen Himmel hinauf und begann den Text von der Karte vorzulesen.
«Heil Dir, Du ewige Sonnenfürstin,
Deren Symbol nun in die Himmel steigt,
Heil Dir, von den Gestaden des Morgens.»
Jane senkte die Arme und verharrte schweigend. Ab morgen würde sie die Karte nicht mehr brauchen.
Sie war auf dem Weg.
Dieses Mal würde sie es richtig machen.
Merrily legte ihre Jacke auf eine der vorderen Bänke und kniete sich vor die Chorschranke.
Der Altar stand in dem diffusen Licht wie ein grauer Block vor ihr, unter einem Bleiglasfenster, dessen Farben noch nicht erwacht waren. Sie hatte weder Licht angeschaltet noch eine Kerze angezündet.
Als sie die Kirche aufgeschlossen hatte, war ihr durch den Kopf gegangen, wie schade es war, dass man das Haus Gottes kaum länger als zu üblichen Bürostunden offen halten konnte. Ted wollte am liebsten schon um fünf Uhr nachmittags zumachen, aber Merrily bestand auf mindestens sieben Uhr, auch wenn sie dann selbst abschließen musste. Eine Kirche sollte wirklich rund um die Uhr Zuflucht bieten. Vielleicht konnte man ja so eine Art nette Wachtruppe engagieren, um die Vandalen herauszufiltern – aber versuch
das
mal durch den Gemeinderat zu bringen!
Konzentration! Merrily kniete schweigend etwa zehn Minuten lang da, um sich zu sammeln. Dann begann sie mit zögernder, aber fester Stimme zu beten.
«Christus sei bei mir, Christus sei in mir,
Christus sei hinter mir …»
Christus und wer noch? Ein Beitrag in der
Church Times
der vergangenen Woche hatte von zwei weiteren Übergriffen – einer davon sexuell – auf weibliche Pfarrer in ihren eigenen Kirchen berichtet. Aber man konnte sich ja schließlich nicht in Watte packen wie diese kleinen Heiligenfigürchen.
Auch der Vorfall mit Denzil Joy hatte ihr gezeigt, wie gefährlich es war, sich nicht zu schützen, bevor man zur Bearbeitung eines Falles aufbrach. Außerdem gefiel ihr an dieser Moon-Sache einiges nicht besonders. Besessenheit zum Beispiel war immer gefährlich. Sie hatte am Vorabend, während Jane unterwegs war, bei Lol angerufen, um noch ein bisschen mehr über Moons Hintergrund zu erfahren. Sie mochte die Vorstellung nicht, dass Moon das Foto ihres lange verstorbenen Vaters in einem Zimmer voller Eisenzeitrelikte aufstellte. Womöglich zog diese Frau irgendwelche heidnischen keltischen Kräfte an, die sie nicht würde beherrschen können.
Lol hatte recht: Es war notwendig, dass sie sich selbst ansah, wie Moon lebte. Sie musste versuchen, alles mit Moons Augen zu sehen. Aber wenn dort etwas war, irgendeine Anwesenheit aus uralter Zeit, wäre Merrily dann imstande, sie zu spüren? Und sie gleichzeitig abzuwehren?
«Ich wappne mich mit ihrem Namen,
dem mächtigen Namen der Dreifaltigkeit.
Indem ich sie anrufe,
die drei in Einem und den Einen in den dreien …»
Plip-plop!
Die grünlichen Schläuche glitten aus den Nasenlöchern des sterbenden Denzil Joy.
Plip-plop!
Merrily zuckte zusammen.
Stopp!
Sie öffnete und schloss ihre Augen und zog die Falten aus Blau und Gold eng um sich.
Nochmal von vorne.
«Christus sei bei mir, Christus sei in mir …»
Doch Merrilys gemeinsamer Besuch mit Lol in Moons Scheune sollte gar nicht stattfinden. Etwas Widerwärtiges war passiert. Etwas, das sie nicht ignorieren konnte.
Jane nahm den Anruf an, während sich Merrily ums Frühstück kümmerte.
«Da ist so ein grässlicher, aufdringlicher Mistkerl dran.»
«Nicht so
laut!»
Merrily nahm das schnurlose Telefon mit in die Küche.
«Merrily Watkins am Apparat.»
«Hier spricht Major Weston, Regionalleiter der Stiftung für ungenutzte Kirchen. Ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich Sie vor acht Uhr morgens störe. Ich finde es lächerlich, dass ich Sie überhaupt anrufen muss. Ich wollte mich mit dem
Ortsgeistlichen
um die Sache kümmern. Aber der Ortsgeistliche sagte mir merkwürdigerweise, dass alle Dinge dieser Art direkt an Sie berichtet werden müssen.»
«Was für ein Problem gibt es denn, Major?» Sie hatte nicht einmal gewusst, dass die Stiftung für ungenutzte Kirchen überhaupt Regionalleiter hatte.
«Das Problem heißt Entweihung, Mrs. Watkins. In der Kirche von St. Cosmas und St. Damian in Stretford. Wissen Sie, wo das ist?»
«So ungefähr.»
«Ich gehe davon aus, dass Sie es finden. Die Polizei hat es schließlich auch geschafft.»
«Um welche Art Entweihung geht es denn?»
«Um welche Art? Um
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