Mobile Röntgenstationen - Roman
ist? Eine einfache Frau vom Dorf, sie hat Antanas großgezogen. Sein Vater ist im Wald umgekommen, die Mutter an Schwindsucht gestorben, als er vier Jahre alt war. Ja, natürlich, deshalb nahm er den Kampf auf, den Kampf mit der Tuberkulose, bildhaft gesprochen. Du sprichst es richtig aus, solche Kämpfer nennt man Ftiziater. Ich glaube, es wäre ähnlich gekommen, wenn seine Mutter an einer anderen Krankheit gestorben wäre. Er wäre trotzdem Röntgenologe, er ist dafür geboren, wie andere zum Töpfer oder Schlagzeuger bestimmt sind. Ja, genau – Fti-zia-ter. Ohne Pathos. Er hätte vielleicht ein großer Wissenschaftler werden können, ich fürchte dieses Wort nicht. Er ist auch Wissenschaftler, aber ein noch größerer Praktiker. Er spürt jede Krankheit. Der Bus und was damit zusammenhängt, das ist nur ein Teil von Antanas’ Wirkungskreis, wenn auch kein geringer. Ich kann es dir nicht richtig beschreiben, begreife selbst noch nicht alles. Und ansonsten hast du Recht, Kleiner, ich hab mich verändert. Im Prinzip auch unwiderruflich. Und ich freue mich, dass es so ist. Ich bin weder eine Mystikerin noch eine naive Romantikerin, du hast mich ein wenig kennen gelernt. Ich glaube auch, es ist nicht mehr so viel Zynismus in mir. Was meinst du?
Offen gesagt, mir war das alles ein bisschen zu viel. Melodramen, Horror, Pathologien, hyperrealistische und surrealistische Details, zu viel. Vielleicht deshalb, weil ich einen Schwips hatte, erschien mir alles aufgeblasen und allzu bedeutungsgeladen. Lucija trank fast nichts – und früher hatte sie doch getrunken! Dennoch glaubte ich, was sie sagte. Sowohl das von den verschmorten Kanuten als auch das von Antanas’ hypertropher Berufung, in den Lungen der litauischen Nation nach Kavernen zu fahnden. Schließlich war auch Lucija müde geworden. Mir deckte sie auf dem Sofa das Bett, sie selbst schlief in dem an einen Saal erinnernden anderen Zimmer. Noch durch die Tür hindurch unterhielten wir uns, was einige Lautstärke erforderte. Ich bestätigte nur hin und wieder mit einem dumpfen oder dahingemurmelten Ach so und Ach ja, dass ich noch zuhörte.
Aber am Morgen, nachdem sie Kaffee gekocht, mir ein Gläschen eingeschenkt – mehr gibt’s nicht! – und sich neben mich gesetzt hatte, fuhr sie mit ihrer Erzählung fort, als habe sie sie nur kurz unterbrochen. So ging sie zum Beispiel in die Küche und fragte dann: Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, dass sie nicht wisse, ob Antanas sie wirklich liebe. Niemals würde er über solche Dinge sprechen, er ist delikat, keiner, der große Worte macht. Nein, natürlich, er ist nicht aus Holz! Die beiden sind wie alle Menschen. Aber, klar, nicht das ist das Wichtigste. Nur früher war es das. Nein, da ist keine Selbstaufopferung, das ist nicht ihre Natur. Antanas würde kein Opfer annehmen. Lucija versuchte zu lächeln, aber selbst dieses Lächeln schien mir so ernst, dass es mich fröstelte. Ich erkannte sie nicht wieder. Dieses Morgengespräch gefiel mir nicht. Ich wollte schneller zu Brūklys, dem Tischler und Hämorrhoidenbesitzer. Ein Bier und dann schlafen. Doch das ließ sich schlecht machen, denn Lucija redete weiter. Allzu oft erwähnte sie Antanas. Kein Wunder, Antanas war ihr alles: Vater, Ehemann, auch Kollege. Ein Ideal. Ein Götze. Ein Held. Sie brachte sein Foto in einem kleinen Holzrahmen. Antanas Bladžius: weißes Hemd, langer schwarzer Schlips. Die Haare auf der Seite, ordentlich gekämmt, die Frisur kurz, sportlich, vielleicht ein wenig altmodisch. Die längliche, wohlgeformte Schädelpartie, die schmale Nase und das energische Kinn verrieten den Indoeuropäer. Ein Muttermal auf der linken Wange, allzu deutlich, um es zu übersehen. Dennoch kein Filmstar. Weder ein Schönling noch ein Orang-Utang. Ein bisschen wie Eisenhower, nur weit besser aussehend, das war Lucijas Definition. Ja, er sei verheiratet gewesen, mit einer Kinderärztin. Schon lange geschieden, keine Kinder. Was noch? Älter als sie, zuweilen schroff und abweisend. Schwimmt und taucht hervorragend. Liest, aber nicht nur Čechov und Biliūnas. Malt Aquarelle, nur fehlt gegenwärtig die Zeit dazu.
Ich versuchte, mir Antanas Bladžius vorzustellen in diesem riesigen, einem früheren Ofizin zugehörigen Zimmer. Das war nicht schwer. Da schließt er ruhig die altmodische Flügeltür auf, tritt ein. Mit einer leichten Bewegung hängt er den Mantel auf, küsst Lucija, schmunzelt über ihre Diensteifrigkeit. Wäscht sich die Hände. Dann
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