Mobile Röntgenstationen - Roman
wird steinig sein. Sie werden sich die Fußsohlen ruinieren, sich blutige Knie und Gelenke holen. Aber die Wunden werden heilen, es wird sich Grind bilden. Und vielleicht werden Sie gewinnen. Schamgefühle wegen Hämorrhoiden? Völlig grundlos! Ach, man hätte sich gleich an mich wenden sollen! Hören Sie, Hämorrhoiden sind leicht zu heilen, und im nächsten Jahr werden die Kommisshengste sie wieder greifen wollen. Sie brauchen eine ernstere, solidere Krankheit. Seh ich’s doch von weitem, dass Sie nicht mehr studieren wollen. Gut, wir sprechen uns noch. Jetzt gehen wir uns erst einmal ansehen, wie Jukna und Chadaravičius Mrožeks Tango tanzen. Ich war geschockt, woher wusste dieser Manteufel das alles? Konnte der Gedanken lesen? Hatte ich doch gerade am Vormittag desselben Tages fest beschlossen, nach den Semesterferien nicht an die Uni zurückzukehren! Ansonsten gefiel mir Manteufel, er machte den Eindruck eines gefestigten Menschen, ein bisschen Zyniker vielleicht, aber einer mit Charme . Elli hatte in dieser Beziehung nur einen Trumpf – ihre Jugend. In seinen Händen war alles: Gesundheit, gesellschaftliche Stellung, Vermögen. Letzteres relativ, versteht sich. Ich denke an die Vermögenden aus dem Vilnius des Jahres 1968. Und nun eile ich den Ereignissen voraus: Denn ähnlich lief es dann auch ab. Robert Manteufel, Doktor der Medizin, emigrierte bald darauf nach Israel, lehrte in New York und Milano, während Elli weiter als Krankenschwester arbeitete. Der Höhepunkt ihrer Karriere war Stationsschwester in einem Rot-Kreuz-Spital. Später heiratete sie einen Ukrainer, einen Rohstofflieferanten mit echt ukrainischem Nachnamen: Dymko Senator. Noch viel später bekam ich ihn auch zu sehen, den Senator , einen widerlich süßlichen, verfetteten Säufer. Er brachte dann auch Elli an die Flasche, was konnte man anderes erwarten.
Ich rief also Elli an. Erklärte nicht mal, warum ich nicht ins Kino wollte. Sie fragte auch nicht. Auch Lucija fragte nicht, warum ich telefonierte, war diskret! Den dunklen Korridor entlang führte sie mich bis ans Ende des Hofes, öffnete im Dunkeln eine mit Kunstleder beschlagene Tür, und ich – eben das heißt Allgemeinbildung! – erinnerte mich, dass hier einst das Ofizin [22] war, der Gebäudeflügel nämlich, in dem früher die Bediensteten und das Personal untergebracht waren. So sagte ich es ihr: Hier war früher das Ofizin. Sie lächelte höflich, ohne etwas zu erwidern. Vielleicht hätte sie ähnlich gelächelt, hätte ich ihr ganz ernsthaft erklärt, dass in dem Zimmer, das wir gerade zu betreten beabsichtigten, einst Fëdor Dostoevskij übernachtet hatte. Sie hatte zur Zeit wohl andere Sorgen.
Was, Lucija, bewegt dich heute eigentlich? – erkundigte ich mich ironisch, als sie einen niedrigen Tisch eindeckte, bescheiden, wie sie sagte, recht üppig nach meinen Maßstäben. – Und wo ist übrigens der Herr Doktor?
Lucija antwortete nur auf den zweiten Teil der Frage: Antanas habe dienstlich in Leningrad zu tun und komme in einer Woche zurück. Dann begann sie zu meiner Verwunderung die Mutation der von Koch entdeckten Zellen zu erklären, Antanas und seine Kollegen versuchten nämlich zu beweisen, dass Kochs klassische Bakterien sich so an die neuen Medikamente gewöhnt, sich so angepasst hatten, dass man unbedingt und unter allen Umständen etwas tun musste! Nur die ältere Ärztegeneration in Russland, die der Ftiziater [23] , wolle das um keinen Preis anerkennen. Beinahe feierlich erklärte sie, die klinischen Merkmale der Tuberkulose seien bereits im Gesetzbuch des Hamurabi beschrieben worden. Das kommentierte sie dann weiter, als gelte dieser Kodex bis auf den heutigen Tag. Weißt du, schwärmte Lucija, dort werden sogar prophylaktische Maßnahmen erwähnt. So wurde etwa davon abgeraten, ein an der Schwindsucht leidendes Mädchen zu heiraten, und wenn die Frau erkrankte, war es dem Mann erlaubt, sich umgehend scheiden zu lassen. Offenbar war sie entschlossen, die Nacht hindurch den Kampf mit der Tuberkulose und dessen Geschichte zu dozieren, vom alten Babylon bis in die Gegenwart. Mich interessierten ein wenig mehr ihre persönlichen Metamorphosen und Mutationen. Es reizte mich, die Liebesgeschichte von ihr und Antanas zu erfahren. Wie sie die erste Nacht miteinander verbracht hatten und die zweite. Warum war sie in jener Nacht nicht im Bus gewesen? Und wer hatte anderntags den Röntgenologen fast totgeprügelt? Natürlich hab ich sie nichts gefragt, aber aus ihren
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