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Titel: Mobile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Richter
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stieß Joachim hervor und griff nach den Händen der alten Frau, sah sich nach einem Pfleger um und war zugleich darauf bedacht, keine große Aufmerksamkeit zu erzeugen. »Sie hat Panik, sie kippt gleich weg.«
    »Bullshit«, murmelte Michael gelassen. »Sie ist lediglich ein wenig überrascht. Panik riecht man, denn sie stinkt wie dünne Scheiße in der hintersten Ecke eines durchfeuchteten Kellers. Aber hier riecht es nur nach Kaffee, Toast und Rührei. Und halbvermoderten, alten Menschen.«
     
    Wenig später saßen Joachim und Michael in Frau Reichels Einbettzimmer. Über dem altmodischen Sofa hingen einige ältere und mitunter bereits verblasste Fotografien, die jene geliebten Menschen zeigten, die die alte Frau bereits überlebt hatte oder die für sie mittlerweile kaum noch Zeit fanden.
    Trotz seiner starken inneren Anspannung amüsierte Joachim das Bild, das sie abgaben, als Michael und er, artig und kerzengerade und Schulter an Schulter wie zum Rapport bestellte Erstklässler, nebeneinander auf dem Sofa saßen, die Hände im Schoß gefaltet. Auf der anderen Seite des runden Holztisches saß, in einem kleinen Sessel, die alte Frau. Sie rieb sich ihre knochigen, von unzähligen Altersflecken bedeckten Hände. Joachim kam der Gedanke, dass sie unter schwerer Arthritis leiden und schlimme Schmerzen erdulden müsse.
    Sie frag te: »Wie haben Sie mich ausfindig gemacht?«
    »Ein Freund hat uns geholfen«, sagte Joachim.
    Sie nickte langsam. »Und Sie sind hier wegen damals. Oh, ich hatte so sehr gehofft, dass es niemals in mein Leben zurückkehrt, obwohl ich wusste, dass es mich nie in Ruhe lassen würde. Aber wer weiß, vielleicht ist es gut, dass endlich jemand den Weg zu mir gefunden hat.« Nun sah sie über die Köpfe der beiden Männer hinweg an die Wand. Ihrem starren Blick nach zu urteilen, hatte sie sich vorübergehend in einer der Fotografien verloren. Dann schloss sie die Augen. Die Lider waren dünn und betonten die dunklen Ringe unter den Augen. Fast schien es, als schliefe die alte Frau ein, als sie plötzlich die Augen öffnete und ihren Blick auf Joachim richtete.
    »Ist es Ihr Kind, um das es geht?«
    »Ja. Mein Sohn. Er ist knapp ein Jahr alt.«
    »Er könnte sterben«, sagte Michael und sah Frau Reichel fest an.
    Ihre Augen weiteten sich fast unmerklich.
    »Vielleicht muss es nicht geschehen«, sagte Michael. »A ber dazu brauchen wir Ihre Unterstützung.«
    Sie seufzte . »Das Sterben ist eine einsame Angelegenheit«, sagte sie dann und ihre Stimme klang jetzt noch brüchiger. »Selbst wenn während des Sterbens jemand unsere Hand hält oder unseren Kopf stützt, gehen wir den letzten Schritt alleine. Auch das Leben kann eine einsame Angelegenheit sein, vielleicht ist es noch einsamer als das Sterben, aber mit absoluter Sicherheit werden wir das erst nach dem letzten Atemzug wissen. Ich bin jetzt vierundachtzig Jahre alt. Meine Daseinszeit ist bald abgelaufen. Meine Existenzzeit ist jedoch bereits seit langem vorbei. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wann ich zu existieren aufhörte. Vielleicht vor achtundzwanzig Jahre, als mein Mann starb. Er hatte Krebs. Es war sehr qualvoll. Am Ende stöhnte und wimmerte er nur noch, er hatte schlimme Schmerzen und bettelte um den Tod. Er war abgemagert bis auf die Haut und hatte nicht mal mehr die Kraft, die Arme zu heben.«
    Joachim und Michael sahen sie schweigend an.
    »Werner war ein guter Mensch und wunderbarer Ehemann. Und er war treu, was nicht selbstverständlich war. Er sah gut aus und hatte Charme, viele Frauen machten ihm schöne Augen, aber ich bin davon überzeugt, dass er nie ernsthaft in Versuchung geriet. Werner hatte sich immer einen eigenen Laden gewünscht. Er konnte gut verkaufen, müssen Sie wissen, selbst einem Erblindeten verkaufte er ohne Mühe einen Stapel Bücher.«
    »In dem Laden gab es eine Menge verschiedenes Zeugs«, sagte Michael. »Auch Spielzeug. Woher hatte Ihr Mann all diese Dinge?«
    Sie kniff den Mund zusammen, ihr Gesicht wurde hart. »Kennen Sie das Gefühl tiefster Verbitterung und größter Verzweiflung? Dieses Gefühl ist eine sehr große und schwere Last. Ich verspüre Verbitterung darüber, dass mein verstorbener Mann diese - wie er es nannte - Vereinbarung abgeschlossen hat. Ich verspüre Verzweiflung, weil ich davon erst erfahren habe, als es bereits zu spät war. Werner hatte immer sehr frühzeitig mit mir über alles gesprochen. Aber dieses eine Mal nicht. Dass Werner es ausgerechnet diesmal nicht tat,

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