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Freundschaften an. Alles, was er wollte, war Menschen zu blenden und für seine Zwecke zu missbrauchen. Er war ein Seelenfresser, doch das sollte Werner und mir erst später bewusst werden. Eines abends kam Werner nach Ladenschluss nicht nach Hause. Ich wunderte mich und ging nach unten. Der Krämerladen war verschlossen, von Werner war nichts zu sehen. Es war das erste Mal, dass er nicht zeitig zum Abendbrot zu Hause war, ohne vorher Bescheid zu geben. Ich ahnte, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste, denn Werner war gewiss kein Mann, der spontan mit anderen Männern etwas trinken ging und dabei die Zeit vergaß. Ich hatte mir vorgenommen, um zehn Uhr die Polizei zu rufen, sollte Werner bis dahin nicht heimgekehrt sein. Wenige Minuten vor Zehn stand er dann in der Tür. Er war aufgedreht, euphorisch, und das wollte so gar nicht zu ihm passen, es entsprach einfach nicht seinem Naturell. Er hatte eine Flasche Sekt dabei und sagte, es gebe etwas zu feiern. Dies war der Abend, an dem er jene furchtbare Vereinbarung mit ihm besiegelt hatte.«
Sie machte eine Pause, dachte zurück, schüttelte den Kopf. Sie legte ihren Kopf ein we nig in den Nacken und wirkte, als ob sie das Sprechen viel Kraft gekostet hätte.
»Was war das für eine Vereinbarung ?«, fragte Joachim nach.
»Werner sagte, es entspreche der klassischen Philosophie des Geschäftema chens. Es sei eine Vereinbarung, die auf Gegenseitigkeit beruhe. Nutzen für beide Seiten, nannte er es. Sie hätten über den Austausch Einigkeit erzielt.«
»Einigkeit über den Austausch?«, hakte Joachim nach. »Ich ve rstehe beim besten Willen nicht … . Was wurde vereinbart?«
Sie drehte den Kop f und sah zum Fenster hinaus. »Er, dieser Mann, betrat am Tag der Vereinbarung den Krämerladen. Er sagte Werner, er müsse ihm etwas zeigen, er hätte was für ihn. Dann fuhren sie raus zu Werners zukünftigem Laden. Der Raum war frisch gestrichen und bereits fertig eingerichtet, mit Regalen und einer Kasse, aber noch ohne Ware. ›Das ist jetzt dein Laden‹, sagte er zu Werner, ›er gehört dir.‹ Werner glaubte erst einmal an einen schlechten Scherz, bis er verstand, dass es keiner war. ›Was muss ich dafür tun?‹, fragte Werner. ›Nur ein paar Dinge verkaufen, die ich dir gelegentlich gebe‹, antwortete er. Werner fragte, welche Dinge es seien, und er antworte: ›Verschiedene Artikel. Aber du darfst diese Artikel mit keinem Wort bewerben und sie niemanden aufschwatzen, sondern sie müssen ihren Weg ganz alleine zum Käufer finden. Ich würde es sofort erfahren, wenn diese Artikel beworben werden, und dann wäre alles vorbei.‹«
Sie wandte sich wieder Joachim und Michael zu.
»Was wäre vorbei?«, fragte Joachim.
»Der Deal«, sagte Michael leise. »Der Laden wäre vorbei - und möglicherweise sogar mehr als nur das. Vielleicht Werner Reichels Leben, vielleicht das seiner Frau.«
Sie holte tief Luft . »Das alles kam mir sehr seltsam vor, doch Werner war nicht bereit, mit mir über meine Bedenken zu sprechen. An ihm war tagelang kein Herankommen. Er war wie besessen von dem Laden. Dort verkaufte er alles Mögliche fürs tägliche Leben. Töpfe, Knöpfe, Schnürsenkel, Kaffeekannen, Glühbirnen. Aber keine Lebensmittel. Manchmal war auch eine Puppe dabei oder eine holzgeschnitzte Figur zum Hinstellen. Vieles davon war neu, aber einiges auch gebraucht. Werner erzählte mir nicht, woher er das Geld dafür hatte, unsere Ersparnisse hätten dafür jedenfalls nicht gereicht. Zum ersten Mal überhaupt hatte Werner Geheimnisse vor mir, und ich spürte genau, dass sie düster waren. Werner veränderte sich. Sein Blick veränderte sich, sein Sprechen, sein Gang - alles. Ich wusste, dass etwas Furchtbares begonnen hatte, doch ich hatte keine Vorstellung, was es war - und wie furchtbar es war.«
Sie deutete auf das leere Glas auf dem Tisch, sah Joachim an und sagte: »Mein Mund ist trocken. Bitte holen Sie mir etwas Wasser. Leitungswasser, ich vertrage keine Kohlensäure. Hinter der Tür dort ist das Bad. Es ist klein und eng, aber es ist ein Bad. Können Sie sich vorstellen, dass in dieser Einrichtung nicht jedes Zimmer eine Nasszelle hat? Es gibt hier über neunzig Plätze für Menschen wie mich, die vom Leben kaum mehr als nur noch den Tod zu erwarten haben, aber eine Toilette und ein Waschbecken in jedem dieser letzten Wohnräume des Lebens sollte man den Bewohnern doch wohl zugestehen, meinen Sie nicht auch? Nein, meine Herren, manchmal ist es nicht
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