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Mobile

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Titel: Mobile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Richter
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war kein Zufall gewesen - er war es gewesen.«
    »Ich kann Ihnen überhaupt nicht folgen«, sagte Joachim. »Wovon und von wem reden Sie?«
    Sie knetete ihre Hände. »Um welches Spielzeug geht es bei Ihrem Sohn, junger Mann?«
    »Ein Mobile. Es hängt über seinem Kinderbett. Die in der Luft tanzenden Holzfiguren machen etwas mit ihm. Ich weiß nicht, wie diese Verbindung zwischen dem Mobile und meinem Sohn funktioniert, aber ich kann sie nicht unterbrechen.«
    »Erinnern Sie sich an das Mobile?«, fragte Michael.
    Sie schüttelte leicht den Kopf. »Diese Sachen, die Artikel, sie kamen und gingen. Kaum etwas blieb lange im Laden, wie gesagt: Werner war der geborene Verkäufer. Vieles hatte Werner auch gar nicht von ihm , sondern kaufte es woanders oder erhielt es aus Nachlässen.«
    »Wer war denn nun er ?«, fragte Michael ungeduldig.
    »Ja - wer war er?«, murmelte sie. Sie holte tief Luft und sagte: »Werner brachte ihn eines Tages mit nach Hause. Wir hatten eine kleine Wohnung in der Innenstadt, zwei Zimmer bloß, direkt über dem Krämerladen, in dem Werner arbeitete. Dort packte er Ware aus und füllte die Regale mit Konserven nach, die Arbeit gefiel ihm nicht, aber sie wurde bezahlt. Ich arbeitete in einer Wäscherei, es war anstrengend, Abends schmerzten mein Rücken und die Handgelenke. Über die M ittagsstunden hatten der Krämerladen und die Wäscherei geschlossen, von zwölf bis vierzehn Uhr. Werner und ich aßen zu Hause immer gemeinsam zu Mittag, es gab stets etwas, das ich am Abend zuvor vorbereitet hatte, damit es schnell ging, meistens Eintopf, das aßen wir beide gerne. Anschließend machte Werner noch ein Nickerchen, schließlich musste er jeden Morgen schon um vier Uhr raus, um Ware vom Großhandel zu holen. Nie zuvor hatte Werner jemanden zum Mittagessen mitgebracht, umso überraschter war ich, als er an jenem Tag diesen Mann mitbrachte. Ich sagte bereits, dass Werner ein gutaussehender Mann war, doch dieser Mann war ein Bild von einer Erscheinung. Groß und schlank, breitschultrig, ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Was mich aber am meisten faszinierte, waren seine Augen. Sie waren grün und sie sahen aus wie eine Kreuzung aus Menschen- und Katzenaugen. Bis heute habe ich nie wieder einen Menschen mit Augen wie diesen gesehen. Werner sagte, der Mann sei Engländer, ein Soldat, der seit einem knappen Jahr in Niedersachsen stationiert war. Er sei in den Krämerladen gekommen, um eine Flasche Sprudel zu kaufen. Werner sprach, für unsere Generation, ein gutes Englisch. Fast eine Stunde lang war der Mann unten im Laden geblieben und sie hatten miteinander geredet, nur hin und wieder von der Kundschaft unterbrochen. Werner lud ihn schließlich ein, bei uns zu Mittag zu essen. An jenem Tag gab es Steckrüben und Salzkartoffeln, das weiß ich noch ganz genau. Der Mann war nicht nur ausgesprochen gutaussehend, sondern auch äußerst charmant. Ich selbst spreche kein Englisch und deshalb konnte ich nicht verstehen, was er sagte, aber das war auch nicht nötig, denn allein der warme Klang seiner Stimme und die Art des Sprechens reichten aus, dass selbst eine treue und ihren Mann zutiefst liebende Frau wie ich Gedanken hatte, für die eine einzige Beichte nicht ausreicht. Kennen Sie dieses Märchen, in dem die Fee einen Zauberstab besitzt, mit dem sie andere Menschen berührt und dann fliegen viele kleine Sterne durch die Luft, und wenn die Sterne wieder verschwunden sind, ist auf einmal alles ganz anders? Genauso verhielt es sich mit diesem Mann und uns. Er hatte etwas mit uns gemacht, mit Werner und mit mir, doch noch wussten wir nicht, was es war. Er erzählte Werner, sie seien der gleiche Jahrgang, und wir glaubten ihm. Wir glaubten ihm ohnehin alles. Werner las ihm jedes Wort von den Lippen ab und mir war es kaum möglich, ihn anzusehen ohne dass ich auf dem Stuhl hin und her rutschte.«
    Das Gesicht der alten Frau bekam einen verächtlichen Ausdruck. »Ich sah ihn nach diesem Tag nie wieder, aber dieser eine Tag veränderte alles. Werner traf sich fortan häufiger mit ihm, aber niemals wieder in meiner Gegenwart. Damals dachte ich, Werner wolle es nicht und sei vielleicht ein wenig eifersüchtig, doch später kam ich zu der Überzeugung, er wollte es nicht - und zwar aus Sorge, dass ich ihn durchschaute. Werner jedenfalls war weit davon entfernt, ihn zu durchschauen. bildete sich ein, mit ihm befreundet zu sein. Ein Trugschluss. Dieser Mann war niemandes Freund, er legte es nicht auf

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