Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
Ich höre ihr nicht mehr zu. Mir ist eiskalt. Alles wird gut, rede ich mir ein. Am Ende wird immer alles gut. Es gibt eine vollkommen vernünftige Erklärung. Im schlimmsten Fall rufen wir sie einfach an und verlangen das Kleid zurück.
Während der nächsten drei Stunden passieren verschiedene Dinge.
Sigrid nimmt keine Anrufe entgegen. Wir finden heraus, dass ihr Flug im Morgengrauen ist.
Als wir nach Hause kommen, googeln wir alle Preisverleihungen in jeder größeren Stadt der Welt, bei denen sie möglicherweise in den nächsten paar Tagen eingeladen sein könnte. Denn wenn sie das Kleid danach nicht zurückschickt, kann es sein, dass es nicht rechtzeitig zur Modenschau kommt. Was ich mir gar nicht ausmalen will.
Krähe kommt, um ihr Skizzenbuch zu holen, und ich muss ihr beichten, dass ich IHR KLEID WEGGEGEBEN habe, an irgendeine Tussi, die sie nie gesehen hat und die wir nicht einmal mögen.
Ich muss mir anhören, wie Mum sagt, sie kann einfach nicht fassen, wie dumm ich bin. Und ich muss Harrys entsetzten Blick ertragen, was noch schlimmer ist.
Aus heiterem Himmel ruft Amanda Elat an, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung ist, und ich muss Krähes Gesicht sehen, als sie erklärt, dass der Schwan fort ist. Das ist das Schlimmste von allem.
Edie kommt vorbei und sagt, ich sehe aus wie Jenny an dem Abend der Kid Code- Party, als Joe und Sigrid das erste Mal als Paar aufgetreten sind. Mir ist flau im Magen.
Dann wird mir richtig schlecht.
Edie, Jenny und Mum bringen mich ins Bett.
Erst als sie mein Licht ausknipsen, fällt mir auf, dass ich mich nicht mal bei Krähe entschuldigt habe.
Ich habe noch nie erlebt, dass Krähe beim Entwerfen die Ideen ausgegangen sind. Bis jetzt hat sie, egal was passiert ist, egal was man von ihr verlangt hat, einfach Stift und Papier genommen und eine brillante kleine Nummer entworfen, damit war das Problem gelöst.
Diesmal nicht.
Der Schwan hat jede Inspiration und all die Kunstfertigkeit aufgesaugt, die sie sich in den letzten zwei Jahren angeeignet hat. Er war die Krönung ihrer gesamten Kollektion.
Und es ist auch nicht so, als könnten wir ihn schnell noch mal nachmachen. Der Schwan hat Hunderte von Arbeitsstunden verschlungen. Und den Großteil des kleinen Vorrats an Silberspitze, die Skye handgemacht hat.
Ratlos und eigentlich nur, um irgendwas zu tun, rufe ich Skye an. Sie teilt mir mit, dass sie den Rest des Materials gerade an einen Mailänder Designer verkauft hat. Mum ruft für mich inMailand an. Sie sagen, ja, sie haben das Material und sie könnten es uns per Kurier schicken, falls wir es unbedingt haben müssen.
Fünfhundert Pfund. Plus Porto.
Das war’s dann also.
Am Dienstag ruft Jenny, sobald sie mich in der Schule sieht: »Ich habe ihn gefunden!«
»Den Schwan?«
Sie nickt. Die Neuigkeit ist so gut, dass ich beinahe in die Knie sinke.
»Das heißt, ich weiß, wo er sein wird. Ich habe stundenlang gegoogelt. Am Ende habe ich Joe eine SMS geschickt. Am Samstag wird Sigrid von der spanischen Filmbranche ausgezeichnet. Das ist das Filmpreisdings.«
»Aber sie hat doch erst in einem Film mitgespielt!«
»In nur einem großen. Aber anscheinend auch in lauter kleinen unabhängigen. Wobei der große der einzige ist, der Geld eingespielt hat.«
»Hast du Samstag gesagt?«
Ich versuche im Kopf nachzurechnen. Kleid anziehen. Nach der Veranstaltung nach Hause kommen, oder zumindest zurück ins Hotel. Das Kleid dem Stylisten übergeben, der es nach London schicken soll. Das Kleid ins Flugzeug stecken (wer zahlt eigentlich dafür?). Wenn wir riesiges Glück haben, könnten wir den Schwan am Montag oder Dienstag nächste Woche zurückhaben, was vielleicht gerade noch für die Anproben mit den Models und die Generalprobe der Modenschau am Freitag reicht.
Vorausgesetzt, Sigrid ist zuverlässig. Und denkt an uns.
»Das wird schon«, beruhigt mich Jenny.
Ich hinterlasse eine weitere Nachricht auf dem Handy von Sigrids Assistentin, in der ich ihr viel Glück wünsche und sie an das Kleid erinnere. Niemand ruft zurück.
Am nächsten Abend kommt Harry spät vom College. Er hat ein breites Grinsen im Gesicht.
Inzwischen sind alle über meine verrückte Geschenkaktion informiert, und meine nächsten Verwandten wissen, dass sie in meiner Gegenwart weder laut sprechen noch lächeln oder sonst wie ein fröhliches Gesicht machen dürfen. Ich funkele ihn böse an.
»Problem gelöst«, sagt er. »Wie viel brauchst du?«
»Tausende von Pfund«, sage ich
Weitere Kostenlose Bücher