Modemädchen Bd. 1 - Wie Zuckerwatte mit Silberfäden
einen Gefallen tun?«, fragt sie.
»Klar.«
»Es geht um Sigrid. Du weißt doch, dass wir was zusammen unternehmen sollen? Na ja, Joe hat morgen so ein Meeting, und Sigrid muss allein rumhängen. Sie hat mir so viele Komplimente für mein Kleid gemacht, dass ich ihr gesagt habe, wenn sie Lust hat, könnten wir Krähe im Atelier besuchen. Sie steht total auf den ganzen Fashion-Week-Rummel. Bei der New Yorker Fashion Week geht sie auch zu jeder Modenschau, sagt sie. Und in Paris. Sie bekommt immer Eintrittskarten.«
»Es ist ein totales Chaos!«, sage ich erschrocken. »Überall liegen Sachen herum, unfertige Kleider, Schnittmuster. Sie kann auf keinen Fall ins Atelier kommen!«
»Aber sie muss.« Jenny ist den Tränen nah. »Ich habe es ihr versprochen.«
Ich seufze tief. Ich ertrage es nicht, wenn sie so traurig klingt. Doch ich werde mitgehen müssen, um das Starlet durch die Unterwelt zu führen. Jetzt, im Endspurt, herrscht eine unglaubliche Unordnung an fast fertigen Teilen, Schachteln mit Borten, Stoffresten, übrig gebliebenen Accessoires und haufenweise Zetteln. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie wir rechtzeitig fertig werden wollen, aber wenigstens versichert mir Amanda immer wieder, dass das normal ist und am Ende immer alles klappt.
»Wann wolltet ihr hingehen?«
»Um sechs? Nach der Schule?«
Na schön, montags um sechs gehe ich sowieso immer ins Atelier, also willige ich ein.
Diesen Montag bin ich um fünf vor sechs da. Merkwürdigerweise bin ich allein, aber ich hoffe, das heißt nur, dass die anderen sich ausnahmsweise eine Ruhepause gönnen. Im Atelier ist es dunkel und leer. So habe ich es seit Wochen nicht mehr gesehen. Es fühlt sich komisch an, die Lichter anzuknipsen und zuzuschauen, wie im Takt der aufflammenden Neonröhren die Kleidungsstücke nach und nach aus der Dunkelheit auftauchen.
Ich bin das Chaos gewohnt, doch plötzlich höre ich, wie hinter mir jemand nach Luft schnappt. Als ich mich umdrehe, steht Sigrid schon in der Tür, lächelnd wie in der Zahnpastareklame, und Jenny steht daneben.
Sigrid trägt Jeans und eine Kaschmirpulloverkombination, in der sie zugleich lässig und haarsträubend mondän aussieht. Ihre Handtasche ist traumhaft, wenn man auf so was steht. Ihr Haar glänzt. Ihre Haut ist taufeucht. An ihrem winzigen, perfekt proportionierten Körper ist kein Gramm Fett. Sie ist gut drauf und freundlich und vermittelt den Eindruck, als hätte sie gerade vier Energydrinks eingeworfen und findet uns absolut super. Ich glaube, sie hat nicht gemerkt, dass ich sie nicht leiden kann.
Jenny trägt einen alten Mantel und einen entschuldigenden Ausdruck im Gesicht. Sie stellt uns vor.
»Äh, willkommen. Es ist nicht immer so unordentlich hier«, lüge ich.
»Aber nein! Es ist fabelhaft. Entzückend«, ruft Sigrid affektiert, während sie auf eine der Schneiderpuppen zugeht undüber einen mit Federn besetzten Rock streicht. »Jenny, das Zeug ist göttlich. Wo ist deine kleine Freundin?«
Jenny zuckt die Schultern und sieht mich fragend an. Auch ich zucke die Schultern.
»Nonie kümmert sich um alles«, erklärt Jenny, um sie zu beruhigen. »Sie ist der Kopf hinter der ganzen Veranstaltung.«
So hat mich noch nie jemand beschrieben und ich bezweifle, dass Köpfe hinter irgendwelchen Sachen kichern wie Teenager. Aber Sigrid ignoriert mich einfach und schwebt zwischen den Schneiderpuppen hin und her, fingert hier an einem Stoff herum, dort an den Blütenblättern und da an den Strassbesätzen. Alles ist »niedlich« und »entzückend«. Ich bete, dass sie nichts kaputt macht, aber es kommt mir unhöflich vor, sie darauf hinzuweisen, dass sie nichts anfassen soll.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, frage ich verzweifelt, um ihren Händen etwas anderes zu tun zu geben.
»Warmes Wasser bitte«, sagt Sigrid bestimmt. »Mit einem Hauch Zitrone. Drei Tropfen. Frische Zitrone bitte. Das ist SO süß von dir.«
So sind sie wirklich. Manche zumindest. Du denkst, sie überraschen dich damit, dass sie irgendwie normal sind, aber das sind sie nicht.
Ich sehe mich in der Küchenzeile des Ateliers um, die aus einem Wasserkessel, einer Spüle und einem Kühlschrank besteht. Am Ende reiche ich ihr lauwarmes Leitungswasser ohne Zitrone. Sie nimmt einen Schluck und reicht es mit einer abschätzigen Handbewegung an Jenny weiter. Dann setzt sie ihre majestätische Parade durch das Atelier fort. Manche der Sachen sind nicht »niedlich« oder »entzückend«, sondern einfach nur
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