Modemädchen Bd. 2 - Wie Marshmallows mit Seidenglitzer
Blick erkennen, dass Grannys Stiefel von Balmain sind?
Nach dem Empfang gehen Edie, Krähe und ich durch die Pariser Gässchen zur Île Saint-Louis, der Insel mitten in der Seine, wo Papa wohnt. Seine Wohnung ist winzig, romantisch und wunderschön, mit atemberaubenden Ausblicken über Bäume und Wasser. Die Decken sind hoch, von den Wänden lösen sich die verschlissenen alten Seidentapeten und es stehen überall Bücherstapel und halb bemalte Leinwände herum. Es sieht wahnsinnig unordentlich aus, aber es sind immer die gleichen Sachen. Denn was manche als Haufen von altem Krempel bezeichnen würden (Mum zum Beispiel), sind in Wirklichkeit sorgfältig gesammelte Andenken von berühmten Künstlerfreunden. Papas Wohnung wurde schon tausendmal für Zeitschriften fotografiert.
Es gibt ein Wohnzimmer und ein Atelier mit Fenstern über den Fluss, daneben eine Küche, die so klein ist, dass man sie für einen Wandschrank halten könnte, und ein Schlafzimmer und ganz hinten ein antikes Bad mit Dusche. Nachts legen wir drei Mädchen uns mit unseren Schlafsäcken einfach irgendwohin, wo Platz ist. Deswegen musste der arme Henry in London bleiben: Leider hatte er nicht mehr reingepasst.
Papa experimentiert gerade mit Gemälden, die aussehen wie zu langsam aufgenommene Fotos, weil die abgebildete Person sich bewegt und wackelt und eine Art Schweif nach sich zieht. Sein Modell ist eine Frau mit dunklem Haar, die nicht viel älter als Alexander sein kann und wahrscheinlich Papas neueste Freundin ist, schätze ich, aber er redet nicht darüber. Überall stehen Leinwände von ihr herum. Im Atelier, in der Küche, sogar im Bad hinter den Handtüchern.
»Wie findest du es, trésor ?«, fragt er, als er eins unter dem Waschbecken hervorholt.
»Chouette«, sagte ich.
Chouette ist französischer Slang für cool. Außerdem ist es ein Wort, das man ganz schnell nuscheln kann, so dass Papa hoffentlich nicht merkt, dass ich nicht ganz ehrlich bin, als ich es sage. Seine Malexperimente sind manchmal Geniestreiche und manchmal nicht. Aber so was darf man einem Künstler niemals sagen, sonst kriegt er schlechte Laune und kann wochenlang nicht arbeiten. Kunstbetrachtung ist zehn Prozent Ehrlichkeit und neunzig Prozent Ego-Massage. Wenn man darin nicht geübt ist, kann es ziemlich ermüdend sein, aber glücklicherweise ist es Mums Beruf und meiner irgendwie auch.
»Merci«, sagt Papa, legt den Arm um mich und sieht uns beide im Spiegel an. Wir sehen uns merkwürdig ähnlich – auf eine kleinwüchsige, pfannkuchengesichtige, lockige Weise. »Champagner?«
Er hat eine offene Flasche in der Küche. Nicht dass er sie meinetwegen geöffnet hat, er hat immer eine offene Flasche in der Küche. Wie andere Leute Milch. Die Versuchung ist groß, ein Gläschen anzunehmen, aber ich spüre Mums Schatten, der über mir wacht. Einmal hat sie auf einer Mode-Party erlebt, wie ich heimlich ein paar Gläser getrunken hatte, und sie war so was von wütend. Und heute Abend möchte ich wirklich keinen Schwips bekommen, wo ich doch eine Art Date habe und so weiter. Also lehne ich ab und wünschte, ich wäre fünf Jahre älter.
Zum Glück lenkt Krähe mich von meiner langweiligen Orangina ab, indem sie aus der Dusche durch die offene Badezimmertür mit mir redet. Seit die Beerdigung vorbei ist, hat sie nicht aufgehört zu reden. Das habe ich bei ihr noch nie erlebt. Normalerweise ist sie so in ihre Entwürfe vertieft, dass sie nur sehr wenig sagt. Doch heute ist es anders.
»Ich habe mit so vielen Frauen aus den Ateliers gesprochen. Sie sagen alle, dass Yvette eine Legende war. Dabei sind sie alle toll. Kannst du dir das vorstellen? Da ist eine Frau namens Gina, die auf Spitzenrosetten spezialisiert ist. Sonst macht sie nichts. Nur Spitze. Den ganzen Tag. Und sie sagt, es macht sie glücklich. Sie hatte eine hochgeschlossene Spitzenbluse an, mit einem Spitzenblazer in einer anderen Farbe, von ihr selbst genäht, was eigentlich …« Krähe sucht nach einem Wort, offenbar nach keinem guten, und sie gestikuliert wild, um das Ausmaß eines möglichen modischen Fehltritts zu beschreiben. »Aber es sah fantastisch aus.« Krähe seufzt und unterdrückt ein Gähnen. In den letzten Tagen war viel los.
Ich nuschele eine Antwort und versuche dabei nicht das Gesicht zu bewegen. Der Heimweg hat ewig gedauert und jetzt haben Edie und ich es ein bisschen eilig. Edie zieht sich gerade um und ich konzentriere mich im Badezimmerspiegel auf einen größeren
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