Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
darüber.
Der Mann hörte auf zu murmeln. Anscheinend hatte die Wärme einen Schlaf der Erschöpfung ausgelöst.
Hemmer sah auf ihn herab und verspürte eine Mischung aus Mitleid und Ärger. Modesty beugte sich über ihren offenen Koffer, richtete sich wieder auf und ging zur Tür. Sie winkte Hemmer, ihr zu folgen, und löschte das Licht.
«Laß seine Kleider und das ganze Verbandzeug verschwinden, Alex», sagte sie leise und schloß die Tür.
Hemmer befolgte ihre Anweisungen mit müder Resignation. Er mußte zugeben, daß sie keine List angewandt hatte, um sich seiner Hilfe zu versichern. Die Alternative, den verwundeten Mann in ihrem Wagen wegzubringen, war keine Drohung gewesen, vielmehr die Feststellung einer Absicht. Sie hatte einen Mop geholt und trocknete den Fußboden. Den Kopf hielt sie ein wenig schief, um zu lauschen. «Jetzt bald», sagte sie und stellte den Mop weg.
Hemmer hielt den Atem an, um etwas zu hören, und kurz darauf konnte er das ferne Summen eines Autos wahrnehmen, das im ersten Gang über den kleinen Hügel die Straße herunterkam.
Modesty blickte prüfend auf den Platz vor dem Feuer, wo der verwundete Mann gelegen hatte. Befriedigt setzte sie sich auf den großen, runden Tisch, zog die Beine an, um die gewohnte Stellung einzunehmen, und ließ den Umhang nach hinten fallen. Sie sagte:
«Beginne zu arbeiten, Alex. Und antworte nicht, wenn es klopft. Ich ließ die Tür angelehnt, so daß sie hereinkommen können.»
«Aber du kannst doch nicht –» begann er ungläubig.
«Es könnte nicht besser sein», sagte sie mit einem Anflug von Ungeduld. «Könnte so irgend jemand auf die Idee kommen, daß wir etwas zu verbergen haben? Also los, Alex. Denk nicht mehr an unseren neuen Gast und sei, wie du sonst bist. Wenn du in eine deiner schöpferischen Trancen verfallen kannst, um so besser.»
Mit plötzlicher zorniger Energie griff er nach dem Hammer und einem Kreuzmeißel, drehte den Tisch um ein paar Zentimeter, ging zu der Statue und begann den Schwung der Brauen zu schnitzen, ohne auf das Tonmodell zu achten. Seine Lippen waren zusammengepreßt, und er atmete tief durch die Nase.
Als drei Minuten später jemand laut an die Tür klopfte, blickte er sie bloß kurz an und fuhr in seiner Arbeit fort. Das Klopfen wurde wiederholt. Nach einer langen Pause hörte man, wie eine schwere Eisenklinke gehoben wurde. Zögernd öffnete sich die Tür, und eine Stimme sagte: «Entschuldigen Sie bitte.»
Modesty rührte sich nicht. Sie saß mit dem Rücken halb zur Tür und konnte diese bloß aus dem Augenwinkel beobachten. Hemmer legte den Hammer nieder und begann die Handfläche auf dem Griff des Meißels vorsichtig zu klopfen.
Drei Männer schritten unsicher über die Schwelle, blieben wie angewurzelt stehen und starrten in das Zimmer. Einer von ihnen sagte: «Bitte. Es tut mir leid, daß wir stören, aber es ist dringend.» Er sprach nicht Finnisch, sondern Schwedisch, das in Finnland praktisch von jedem verstanden wird, und mit einem deutschen Akzent. Ein eiskalter Wind blies in den Raum, und einer der Männer schloß die Tür.
Der erste sprach wieder: «Es tut mir leid. Es scheint sehr arg, hier einzudringen, aber –»
Ohne sich zu bewegen sagte Modesty kühl: «Alex, es sind Leute gekommen.» Sie sprach Schwedisch.
Hemmer mochte sie nicht gehört haben. Sein Gesicht zeigte eine fiebernde Intensität, als er zu einem Flachmeißel wechselte und wieder zum Hammer griff. Die Männer traten unruhig von einem Fuß auf den andern, sichtlich verlegen. Modesty sagte etwas lauter: «Wissen Sie, wessen Haus das ist?»
«Nein. Es tut mir leid, Fröken. Wir haben einen Freund verloren. Er wurde bei einem Unfall verletzt. Wir dachten, er könnte vielleicht hier sein.»
Modesty sagte: «Das ist das Haus von Alex Hemmer, dem berühmtesten Bildhauer von Finnland. Er ist mit einer wichtigen Arbeit beschäftigt. Es ist schlimm genug, daß Sie ungebeten eintreten und mich anstarren, während ich so Modell sitze. Aber Herrn Hemmer bei der Arbeit zu stören ist eine Unverschämtheit. Haben Sie mich verstanden?» Bei den letzten Worten wandte sie plötzlich den Kopf um und blickte die Männer mit eisiger Empörung an.
Drei Männer. Gut angezogen, in kostspieliger Winterkleidung, mit Stiefeln und Pelzmützen. Verschiedene Gesichter, aber die gleichen Augen. Nein, der gleiche Blick. Der bekannte kalte, seichte Blick, für gewöhnlich leer und unbeteiligt, jetzt jedoch verändert durch Unsicherheit und
Weitere Kostenlose Bücher