Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
seinen Sitz zurück. Ihre Gesichter wurden von einem feinen Sprühregen benetzt, während das Boot gleichmäßig schnell durch die Nacht pflügte.
Es war zwei Stunden nach Mitternacht, und das Meer dunkel, von einer schmalen Mondsichel kaum erhellt. Von der Yacht waren jetzt nur die Navigationslichter zu sehen. Willie stellte die beiden Motoren ab und begann den Drachen zusammenzusetzen sowie die langen Metallsparren mit den Zwischengliedern zu verbinden. Modesty zog eine Schutzbrille über die Augen und glitt ins Wasser. Auf einen Wink Willies begann Collier das Terylensegel zu entfalten. Fünf Minuten später schwamm der Drachen hinter dem Schiff, und Modesty hielt sich an dem Trapez unterhalb des schrägen Segels.
Collier spürte Kälte in sich aufsteigen. Sie würde angeschnallt bleiben, bis sie in der Luft und in der richtigen Lage war, dann würde sie – weit weg von der
Delphine –
einige Manöver durchführen, um die Wendigkeit des Drachens und die Kommunikation mit Willie zu testen. Dann würde sie sich von den Gurten losmachen und – ohne irgendeine andere Unterstützung – an den Händen von der Trapezstange hängen, während Willie sich der Yacht näherte. Er würde die Kielspur in einem Abstand von mindestens hundert Metern kreuzen, in einem Winkel von dreißig bis vierzig Grad zum Kurs der
Delphine
; so würde er genau in den richtigen Wind kommen. Daß man ihr Boot hören oder sehen würde, war nicht wahrscheinlich. Vielleicht würden ein, zwei Männer im Steuerhaus sein, aber vermutlich würden sie nicht nach hinten schauen.
Der schwimmende Drachen war jetzt etwa zehn Meter vom Boot entfernt, kaum zu sehen in der Dunkelheit des Wassers. Willie hatte den Empfänger mit Kopfhörern an und lauschte. Er gab Gas. Collier konnte Modestys dunkle Gestalt erkennen, die auf einem Slalomski aus dem Wasser aufstand, über ihr etwas großes Schwarzes – der Drachen. Ein paar Sekunden glitt sie über das Wasser, dann erhob sie sich in die Luft.
Willie rief: «Leg aus.» Und Collier griff zur Winde, um langsam und gleichmäßig das Seil aufzurollen, während er Willie beobachtete, um keine Anweisung zu versäumen. Dinah war sehr still, eingeschlossen in ihre eigene Welt ewiger Dunkelheit; sie hätte gerne erfahren, was in jedem Augenblick geschah, aber aus Angst zu stören, drängte sie alle Fragen zurück. Zweihundert Meter hinter dem Boot segelte Modesty, das Gesicht kalt, den Körper gewärmt von dem Schwimmanzug, fünfzig Meter über dem Wasser. Das Zugseil vor ihr verschwand irgendwo unten in der Dunkelheit. Die runde Oberfläche des Kehlkopfmikrofons lag an ihrem Hals. «Ich werde ein paar Slaloms nach links versuchen, Willie. Los.»
Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Trapez, und der Drachen sank sanft nach links herab. Hinunter, hinunter – weit vom Boot entfernt, mit diesem enorm langen Zugseil. Der Wind zerrte an ihr und pfiff durch das Gestell. Knapp bevor ihr Ski das Wasser berührte, bewegte sie sich wieder und sagte: «Hinauf!» Der Drachen stieg und trug sie in einer schrägen Bahn von zweihundert Meter Länge auf die rechte Seite. Dreimal führte sie diese Slalommanöver durch, dann blieb sie wieder auf einer Höhe von fünfzig Meter und sagte: «In Ordnung. Gib Gas, Willie.»
Während der fünfzehn Übungsminuten hatten sie weit draußen, backbord von der Yacht, operiert und diese war ihnen weit vorausgefahren. Modesty konnte sie nicht mehr sehen, doch als Willie sie vorsichtig und langsam in einem großen Bogen heranbrachte, sah sie einen Kilometer oder mehr vor sich zu ihrer Rechten die Navigationslichter.
Sie zog Ski und Handschuhe aus, befreite sich aus den Gurten und hing an den Händen von der Stange. Willie näherte sich der
Delphine
von backbord. Sie mußte ihren langen Slalom so einteilen, daß sie anfing, lange bevor er hinter der Yacht vorbeikreuzte, und mußte so herunterkommen, daß sie das Achterdeck genau in dem Augenblick erreichte, wo das Zugseil senkrecht dazu verlief.
Sie begann zu sprechen. «Langsamer, Willie. Noch langsamer. Ich habe hier oben guten Wind, und du kannst auf zehn Knoten hinuntergehen. Gut. Jetzt ein wenig nach Steuerbord. Halte es so. Halte es …» Sie verlagerte ihr Gewicht. Der Drachen begann sanft zu fallen. Als glitte er einen unsichtbaren Hügel hinab, so kam er schräg auf das Heck der Yacht zu.
Jetzt war sie kaum mehr zwanzig Meter hoch. Sie sah die ganze Länge der
Delphine
klar vor sich und zu ihrer Rechten. Sie würde zu früh aufkommen.
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