Modesty Blaise 09: Die Lady fliegt auf Drachen
auf. Eine zwanzig Meter lange Rettungsleine war bereits um ihre Taille geschlungen.
Sie trug sehr kurze, vom Salzwasser fleckige Shorts aus Jeansstoff und den Oberteil eines Bikinis. Ihre Füße waren nackt, das schwarze Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten gebunden. Meistens verbrachte sie die Tage, sobald es warm genug war, nackt, aber für das Gespräch mit England hatte sie sich, einer Laune folgend, angezogen. In der Hand hielt sie einen kleinen Mop.
Sie steckte den einen Meter langen Stiel in ihren Gürtel, so daß er an ihrer Seite hing, rollte ein Stück Rettungsleine auf und warf die kurze Strickleiter, die sie zum Baden benutzte, über Bord. Der halbnackte, nur mit einer blauen Hose bekleidete Körper des Mannes aus dem Schlauchboot kam wieder an die Oberfläche und drehte sich, während die Arme sich matt bewegten. Modesty legte die Tauchermaske an, ließ sich ins Wasser fallen und schwamm auf den Mann zu, der eben wieder zu sinken begann.
Haie bevorzugen eine bequeme Beute; die unregelmäßigen Bewegungen eines schwachen oder verletzten Lebewesens – sei es Fisch oder Säugetier – ziehen sie unwiderstehlich an.
Daher schwamm Modesty mit energischen, gleichmäßigen Tempi. Zwölf Meter vor dem dahintreibenden Boot zog sie die Füße ein, tauchte, faßte den Mann von hinten unter den Armen und brachte ihn an die Oberfläche. Dann drehte sie sich auf den Rücken, stützte mit einem Arm sein Kinn, um seinen Kopf über Wasser zu halten, und setzte die kräftigen Fußtempi fort, während sie eine Armlänge der Nylonschnur einholte. Sie hielt die Leine mit ihren Zähnen fest, während sie ein weiteres Stück einholte; so brachte sie sich und ihre Last mit jedem Tempo ein wenig näher.
Die Wellen waren noch nicht hoch, aber der aufkommende Wind wühlte sie auf. Wenn sie den Kopf drehte, konnte sie manchmal nur den Mast über den Wellen sehen, dann wieder die ganze Jacht, die auf einem Wellenberg tanzte. Sie spürte, wie der Mann versuchte, seine Beine zu bewegen, und sie sagte hastig:
«Still liegen, bitte, still liegenbleiben. Das ist sehr wichtig.» Ihre Stimme war atemlos von der Anstrengung, aber sie versuchte, ruhig und eindringlich zu sprechen.
Hoffentlich verstand er Englisch. Seine Bewegungen hörten auf. Sie fuhr mit ihren kräftigen Beintempi fort, während sie die Leine abwechselnd mit einer Hand und den Zähnen weiter einholte.
Der weiße Hai war nicht sehr groß, vielleicht vier Meter, aber er war ein Menschenfresser. Jetzt kreiste er vermutlich vorsichtig in Sichtweite und kam langsam näher, während sein kleines, unberechenbares Gehirn die Lage abzuschätzen versuchte.
Sehr bald würde er die vorgesehene Beute mit seiner Schnauze anstoßen, um ihre Reaktion zu prüfen, bevor er zum ersten gewaltigen Biß ansetzte. Das ist das übliche Freßverhalten eines einzelnen Haies. Wären andere Haie dagewesen, dann hätte wahrscheinlich ein blutiger Angriff mehrerer Rivalen begonnen, sobald der Mann ins Wasser gefallen war.
Das alles wußte sie, aber sie verbannte dieses Wissen in eine winzige Abteilung ihres Ichs und hielt es dort fest, mit einem gewaltigen, fortdauernden Willensakt.
In diesem Augenblick beschränkte sich ihre Welt ausschließlich auf etwas so Einfaches wie Einholen und Festhalten, Einholen und Festhalten. Sie war stark, sehr stark, aber das war eine mörderische Arbeit, und das härteste Stück lag noch vor ihr.
Nach einer schier endlosen Minute erreichte sie die Jacht; zum letztenmal packte sie die Leine mit den Zähnen, während sie nach der Strickleiter griff. Durch das Geräusch des Wassers, das gegen den Schiffsrumpf schlug, hörte sie den Mann mit krächzender Stimme irgend etwas sagen. In zehn Meter Entfernung war die Rückenflosse des weißen Hais über dem Wasser zu sehen. Während sie den rhythmischen Fußschlag fortsetzte, sagte sie ihm leise ins Ohr: «Sind Sie stark genug, sich anzuhalten?»
Zu ihrer enormen Erleichterung verstand er. Sein Arm bewegte sich, und während er langsam nach einer Sprosse der Leiter griff, sah sie, daß seine sonnenverbrannte Haut große Blasen aufwies. Er wandte ihr das Gesicht zu, und sie sah einen Stoppelbart, verschwollene Augen und eine hohe, sonnenverbrannte Stirn, die von einer dunkelbraunen Haarsträhne halb verdeckt wurde. Sie drehte sich nach dem Hai um und kämpfte gegen den Drang, mit den Fußtempi aufzuhören und die Beine eng an sich zu ziehen.
Das Segelboot krängte auf der anderen Seite, während es durch ein
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