Modesty Blaise 09: Die Lady fliegt auf Drachen
sehen. Er hebt eine Hand, um ihren Kopf zu drehen. Es ist in sein Gedächtnis gegraben, bevor die lange Dunkelheit wiederkehrt.
Und jetzt ist es wieder da und sieht auf ihn herab.
Die Lippen bewegen sich.
«Hallo, endlich sind Sie aufgewacht.»
Stampfen, steigen, fallen. Klatschen des Wassers gegen den Rumpf.
«Mit ein bißchen Glück haben wir in ein paar Stunden besseres Wetter.»
Ein schmutziges Pflaster über ihren Brauen, ein primitiver Verband an Hand und Arm. Dunkelblaue Augen, voller Erschöpfung, voll heiterer Ruhe.
«Es macht nichts, versuchen Sie noch nicht zu sprechen.»
Ein Lächeln, das von innen aufleuchtet. Ein Lächeln, für das man leben oder sterben kann. Vorbei. Schnappschüsse von Bildern und Tönen, von Geruch und Geschmack. Sie ist im Vorraum, auf der Kajütentreppe und kämpft mit einer Menge Segeltuch … ein gebrochener Mast? Der Wind zaust ihr nasses Haar, preßt das durchweichte Hemd gegen ihren schlanken Körper.
Stunden oder Minuten später ist der Vorhang vor der Treppe festgemacht und sie kriecht in dem schwachen Licht in die Kajüte, stützt sich, schlingt eine Bandage um ihre Hand. Sie hebt den Kopf, um ihn anzusehen.
Ein Lächeln. Ein kameradschaftliches, spitzbübisches Lächeln.
Noch ein Bild. Sie streift die nassen Kleider ab und trocknet sich, bevor sie zu ihm kommt. Dann die köstliche Erleichterung, als ihr Körper das erbarmungslose Hin- und Herrollen von ihm fernhält. Unberührt von Verlangen wagen sich seine Sinne vor um sie kennenzulernen; da ist das gute Gefühl von Fleisch an Fleisch, das über alle Maßen tröstlich ist. Sein Kopf vergräbt sich in die Wärme ihrer Schulter, und er atmet den frischen Duft eines vom Meereswasser getränkten Körpers. Vorsichtig teilen sich seine zerrissenen Lippen und sein Mund preßt sich mit dem Schlingern des Schiffes an sie, seine Hand legt sich auf ihren Körper, eine Spanne unter dem Schlüsselbein, dort, wo die Brust sich zu runden beginnt. Ganz vorsichtig nimmt er ihren Geschmack auf.
Ihre Berührung und ihr Geruch und der Geschmack – das alles wird in seinem Bewußtsein zu Farben; Farben, die sich vermischen und bewegen und Form annehmen. Allmählich sinkt er in den Schlaf. Aber die Farben bleiben.
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Der Mast war am zweiten Morgen gebrochen, als der Sturm seinen Höhepunkt erreichte. Modesty hatte das Krachen gehört, trotz des pfeifenden Windes. Der Mann, den sie mit ihrem Körper festhielt, wimmerte im Schlaf und versuchte schwach, sie festzuhalten, als sie vom Bett rollte, um Shorts, Bluse und Sicherheitsgurt anzulegen. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um eine der Türen gegen den Wind aufzustoßen, dann war sie draußen in dem heulenden Sturm, und der Schaum spritzte ihr entgegen, als sie sich an die Rettungsleine hängte.
Der Mast hing über die Kajüte, von Wanten und Stangen gehalten. Wenn er so ins Meer fiel, würde das Boot mit der Breitseite auf die Wellen treffen und kentern. Ihr Instinkt war rascher als alle Gedanken, und sie bewegte sich bereits, während sie sich auf die für das Überleben notwendigen Handlungen konzentrierte.
Die Backstagen durchschneiden. Jeder Moment erforderte äußerste Willensanstrengung. Der Wind beutelte sie mitleidlos, während sie sich vorwärtskämpfte, um die Wanten durchzuschneiden … Steuerbord, Backbord. Jetzt nur noch das Vorstag. Ein Augenblick der Erleichterung, als der Mast ins Wasser glitt und das Boot von seiner mörderischen Last befreit war.
Sie mußte noch mehr tun. Ihr Körper wurde vom Wind und dem endlosen Stampfen hin und her geschleudert. Ihre Muskeln brannten bei der furchtbaren Arbeit, den Baum in eine Position längsschiffs zu bringen und das Segel festzumachen, während der Sturm es ihr wegreißen wollte.
Endlich. Wieder der relative Friede der kleinen Kajüte. Wie betäubt von der Anstrengung begann sie sich mit letzter Kraft zu trocknen, ihre Wunden zu verbinden und den Mann auf dem Bett zu beruhigen, der kläglich rief: «Bridie …! Bitte, Bridie …»
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Ein neuer Tag und eine andere Welt. Die
Wasp
lag beinahe bewegungslos in einer ruhigen See.
Geduldig arbeitete Modesty, um das Segel vom Baum loszumachen. Die Gleiter, die das Großsegel am Mast gehalten hatten, paßten auch in die Schiene auf dem Baum, und als sie das feststellte, lachte sie fröhlich und begann, während sie weiterarbeitete, sehr leise und sehr falsch zu singen. Sie hatte sich damit abgefunden, daß sie niemals eine Melodie würde richtig singen können.
Später
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