Modesty Blaise 09: Die Lady fliegt auf Drachen
Durchschnitt? Jedes Jahr werden Tausende vermißt.»
«Zum Teufel, das liegt nicht einmal in der Nähe des Durchschnitts. Millionen Lichtjahre davon entfernt.
Denn die durchschnittliche vermißte Person ist ja nicht wirklich verschwunden. Sie hält sich unter einem anderen Namen in einem anderen Teil des Landes oder in einem anderen Weltteil auf, weil sie ihren Ehepartner oder die Kinder oder ihren Job nicht mehr aushalten konnte. Aber das trifft nicht auf Fletcher zu. Oder auf Robert Soames, oder Maria Cavalli oder Jules Baillot oder Gwen Westwood.»
Schweigen. Über zwei der Namen wußte Modesty sofort Bescheid. Robert Soames war ein amerikanischer Kunstkritiker und eine weltweit bekannte Autorität hinsichtlich der neapolitanischen Schule, ein Mann mit ausgeprägten und umstrittenen Ansichten. Maria Cavalli war insofern ein Phänomen, als sie, ohne je Unterricht genommen zu haben, ihren ersten Pinselstrich mit vierzig tat und innerhalb von fünf Jahren zu einer international anerkannten Malerin von erstaunlichem Können wurde. Der Name Jules Baillot war ihr weniger bekannt, doch dann fiel ihr ein, daß er in den Akten des
Netzes
genannt wurde. Er war einer der Direktoren des Louvre.
Endlich fragte sie: «Gwen Westwood?»
«War in einer Spitzenposition bei Sotheby tätig. Fuhr nach Griechenland auf Ferien und kam von einem Tagesausflug nach Sunion nicht mehr zurück. Wurde nie mehr gesehen.»
«Soames verschwand während einer Jagdexpedition in Kanada, nicht wahr? Ich erinnere mich, daß ich damals von einer großen Suchaktion las. Und die Cavalli-Geschichte machte in der ganzen Weltpresse Schlagzeilen. Sie verschwand aus ihrem Studio. Ein Rätsel, die halb ausgetrunkene Tasse Kaffee stand noch auf dem Tisch und so weiter. Was war mit Jules Baillot?»
«Er fuhr von Rouen nach Paris und kam nicht an. Man fand seinen Wagen auf einem Parkplatz. Ende der Geschichte.»
Modesty blickte Kingston neugierig an. «Und du glaubst, daß Luke Fletcher in die gleiche Kategorie gehört?»
«Ich halte es für möglich.»
«Aber warum, in aller Welt, warum, Dick? Was machen die Gangster mit diesen Leuten? Bei Luke und der Cavalli könnte man sich noch vorstellen, daß sie unter Zwang eine Reihe von Meisterwerken malen, aber was dann? Man kann die Bilder schwerlich auf den Markt bringen, und auf die andern trifft die Theorie überhaupt nicht zu. Sie sind Kunstexperten und nicht selbst kreativ. Also warum?»
Willie sagte: «Soweit ist Dick noch nicht, Prinzessin.»
Kingston lachte. «Gut, zugegeben, es klingt alles etwas seltsam und ergibt keinen rechten Sinn, aber es ist ja nur eine Idee. Und die möchte ich Fletcher unterbreiten. Das heißt, ich möchte ihn fragen, ob er es für möglich hält, daß er entführt wurde, weil er ein Künstler ist und daß man ihn gefangenhielt und irgendwie benutzte. Vielleicht löst es eine Reaktion bei ihm aus.»
Modesty saß da und starrte abwesend in ihre Tasse.
Nachdem Willie sie kurz beobachtet hatte, sagte er:
«Wenn Dick recht haben sollte, dann wäre es möglich, daß, wer immer Fletcher geschnappt hat, es nochmals versuchen wird, außer er besitzt bereits das, was er von ihm wollte, was immer das sein mag. Frezzi wurde jedoch nicht angeheuert, um Fletcher zu schnappen, sondern um ihn zu überwachen und jedes Anzeichen einer Erinnerung zu melden. Was will der Auftraggeber tun, wenn Luke sich zu erinnern beginnt? Ihn umlegen, vermutlich. Also wäre es ganz gut, wenn Fletcher bleibt, wie er ist. Er scheint ganz glücklich zu sein.»
Kingston starrte ihn empört an. «Du elender Lump. Wo bleibt dein natürlicher menschlicher Trieb, herauszufinden, zu entdecken, der Wahrheit ans Licht zu verhelfen? Wo ist deine Neugierde, du Schlafmütze?»
«Das alles hebe ich mir für die Mädchen auf», erklärte Willie.
Kingston schaute Modesty an. «Wenn Fletcher sich an etwas erinnert, dann wirst du es als erste wissen, und wir können ihn an einen sicheren Ort bringen, bis er alles erzählt hat. Dann wird es für die Gangster zu spät sein, ihn umzubringen. Sie werden in diesem Fall genug eigene Sorgen haben. Bist du also einverstanden, wenn ich versuche, etwas herauszufinden, Täubchen?»
Sie sah auf und nickte. «Natürlich, Mr. Bones, ich habe gar kein Recht, über ihn zu bestimmen. Und wenn es keine Reaktion gibt?»
«Ich möchte einfach ein paar Tage hierbleiben und mein Glück versuchen.»
«Und hier in diesem köstlichen Haus wohnen?»
«Natürlich möchte ich hier wohnen,
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