Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
öffnete die Tür ein paar Zentimeter. Das Licht in der Halle war ebenso gedämpft wie das in ihrem Zimmer. Sie stand auf und reichte Willie das Skalpell. Es war eine klägliche Waffe, aber in seinen Händen mochte sie brauchbarer sein als in den ihren.
Sie hatten zwei, drei Oliven übrig gelassen, die sie jetzt zerdrückten und das Öl in die Türangeln rieben.
Kein Laut war zu hören, als sie die Tür weit öffneten.
In der Halle lag einer der Wächter zusammengerollt auf der Matte, während der andere, ein Bein weit weggestreckt, auf dem Rücken lag. Lautlos betrat Modesty, von Willie gefolgt, die Halle. Dann blieb sie stehen.
Ihre Nerven spannten sich, als sie merkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Sie machte mit dem Finger ein Zeichen. In drei Schritten hatten sie die Halle durchquert. Jeder beugte sich über einen Wächter, eine Hand in der
nukite
-Stellung, um blitzschnell nach der Kehle greifen und jeden Laut ersticken zu können. Keiner der Wächter bewegte sich, Modesty stellte fest, dass der Kopf ihres Wächters einen unmöglichen Winkel einnahm: Sein Genick war gebrochen. Sie sah zur Seite; Willie kniete neben dem zweiten Mann nieder und starrte auf das Messer, das in seinem Hals steckte.
Man hatte niemanden atmen hören. Das war es, was nicht in Ordnung war. Willie sah sie verblüfft und fragend an. Jetzt hörten sie ein ganz schwaches Geräusch, und Modesty drehte sich rasch um. Im Gang stand Little Krell, den Colt in der Hand, auf seinen kurzen Beinen, die Augen zu Schlitzen verengt.
Sie trat einen Schritt zurück und nach der Seite, vermied jede drohende Geste und deckte Willies Hand, die nach dem Messer im Hals des toten Wächters griff.
Etwas Unglaubliches geschah: Little Krells Colt verschwand im Lederwams, der kleine Mann streckte beide Hände, die Handflächen nach oben, aus und sagte in seinem weichen, gutturalen Französisch: »Nicht nötig, Messer zu werfen, ich komme zu helfen.«
Stille. Dann: »Du?« Obwohl ihre Stimme sachlich war, hörte man die Ungläubigkeit.
»Bitte, Mam’selle. Ich spreche wahr.« Er wies auf die Wächter. »Das mein Messer. Ich töte diese Männer vor vier, fünf Minuten. Ich werde anderen Mann töten, der Harem bewacht. Ich komme zurück und führe Sie hinaus. Lastwagen ist bereit.«
Willie stand langsam auf. Das Messer war in seiner Hand, aber er machte keine Anstalten, es zu werfen, denn Little Krells Augen hatten sich, während er sprach, weit geöffnet, und die verzweifelte Bitte um Vertrauen, die in ihnen zu lesen war, berührte etwas in Willies Innerstem. Es gab eine Zeit – sie war lange her –, wo auch er so vor Modesty Blaise gestanden und aus tiefster Seele gehofft hatte, dass sie ihm glauben würde.
Er hatte keine Ahnung, was Little Krell dazu trieb, aber er murmelte, von dessen Worten überzeugt: »Er meint, was er sagt, Prinzessin.«
Misstrauisch beobachtete Modesty den untersetzten, kräftigen Mann. Willie hatte einen guten Instinkt, aber … das war Little Krell, der Leibwächter und starke Arm von El Mico. Vergeblich versuchte sie, sein erstaunliches Verhalten mit einer ganz besonders raffinierten List zu erklären.
Little Krell sagte: »Wir lieber gehen, Mam’selle. Nicht Zeit verlieren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir warten auf den Arzt.«
Das konnte man jetzt getrost sagen; Willie hatte das Messer in der Hand, und Little Krell war unbewaffnet.
Er sah sie verständnislos an und fragte: »Der Doktor kommt?«
»Mit einem englischen Mädchen aus dem Harem.«
Sein Atem pfiff durch die Zähne. »Nicht einfach, Mam’selle.«
»Das ist meine Sache.«
»Bitte glauben Sie, ich bin Freund.«
»Warum?« Der hässliche Mund verzog sich zu einem seltsamen Lächeln, und die schweren Schultern zuckten. »Wenn wir warten müssen, habe ich Zeit zu erklären, Mam’selle. Als es das ›Netz‹ gab, kämpfen Sie und Willie Garvin eines Tages gegen Rodelle …«
Der Name aktivierte ihr Gedächtnis, und plötzlich fiel ihr alles ein. Der Gabelstapler, das Lagerhaus, das Gesicht von Little Krell, die Nacht in Istanbul, als sie mit Willies Hilfe Rodelles Bande von Mädchenhändlern zerschlagen hatte. Dieser Kampf wurde in einem Lagerhaus ausgetragen. Sie erinnerte sich an Rodelle, der im Zwielicht auf einer Balustrade stand und herabfeuerte, sie erinnerte sich, wie er fiel, als Willies Messer, hinter einem Berg von Kisten hervorgeschleudert, ihn zwischen die Rippen traf. Anfangs hatte Rodelle ein halbes Dutzend Männer gehabt, und
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