Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
Arbeit haben wir endlich das ehrgeizige Ziel erreicht, das Nannie stets für ihre Äffchen angestrebt hat. Bald werden wir zu Hause sein, zu Hause in England. Dort werden wir einen schönen Besitz finden und so leben, wie es vornehmen Leuten geziemt. Keine Geschäfte mehr mit gemeinen Betrügern und fremdem Gesindel. Keine Gefahren mehr für El Mico. Er ist jetzt für immer verschwunden, ohne eine Spur seiner Identität zu hinterlassen.«
»Little Krell ist die einzige noch bestehende Verbindung«, sagte Jeremy.
»Das habe ich nicht vergessen, mein Lieber, aber das kann warten, bis wir zurück auf Le Dauphin sind. Es wäre nur natürlich, wenn Little Krell eines Tages nicht mehr von seinen langen Schwimmausflügen zurückkehrte. Ihr brauchtet nur einen Wurfspeer und ein paar schwere Ketten.«
Jeremy nickte. »Das werde ich besorgen, Nannie.«
Großspuriger Esel, dachte Dominic.
Es war zehn Uhr. Modesty trank aus dem Wasserhahn in der Kammer, dann setzte sie sich neben Willie auf den Boden. Nach ihrer Rückkehr aus dem Spital hatten sie geschlafen und etwas Brot, Käse und Oliven gegessen, die durch die Tür geschoben wurden. Jetzt bereiteten sie sich eben darauf vor, weitere viereinhalb Stunden zu schlafen.
Als sie, begleitet von zwei Wächtern, in das
bait-at-ta’ah
zurückkamen, hatte Willie Modesty, die auf der Schwelle stand, ein paar Sekunden lang abgeschirmt.
Gleichzeitig drehte er sich um und schrie den erstaunten Wächter an, der unmittelbar hinter ihm stand. Der Vorwurf, er habe seine MP in Willies verwundeten Rücken gestoßen, wurde vom Wächter empört zurückgewiesen. In diesem knappen Zeitraum presste Modesty einen nassen Wattebausch in das Zapfenloch im Türpfosten. So konnte der Zapfen des Schnappschlosses nur halb einschnappen, wenn die Tür verschlossen wurde. Das
bait-at-ta’ah
schien zwar sicher verschlossen, aber jetzt konnte man den Zapfen mit dem Skalpell zurückschieben. Kurz darauf probierten sie es erfolgreich aus.
Willie drehte sich auf die Brust, legte den Kopf auf die Arme und sah Modesty an, die neben ihm auf dem Rücken lag. »Ich glaube, der alte Giles ist in Hochform«, flüsterte er. »Ich meine, er ist oft ein wenig desorganisiert, aber heute nicht. Heute ist er auf Draht.«
»Wir sind seine Patienten«, erwiderte sie leise. »So sieht er uns, und für seine Patienten tut er immer alles, was nur möglich ist. Wenn das bedeutet, dass er eine Weile tüchtig sein muss, so wird er tüchtig sein. Wie geht es deinem Rücken, Willie?«
»Nicht allzu schlecht. Er wird mich nicht behindern. Wenn Giles kommt, werde ich ihn bitten, mir eine zweite Lokalanästhesie zu spritzen.«
»Gut.«
Sie planten den Ausbruch für kurz vor drei. Zuerst mussten die Wächter vor dem
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aus dem Weg geräumt werden. Zu diesem Zeitpunkt war der Schichtwechsel der Wächter auf jeden Fall vorüber.
Wenn Pennyfeather fünfzehn Minuten später nicht mit dem Mädchen zur Stelle war, würden sie ins Spital gehen, um ihn zu holen. Dann waren alle Möglichkeiten offen. Giles hatte behauptet, es sei unmöglich, sich des Hubschraubers zu bemächtigen. Wenn er Recht hatte – sie wollten sich rasch davon überzeugen –, würden sie eines der Fahrzeuge nehmen und es bis zu der Stelle schieben, wo die lange Bergstraße von Xanadu hinunter zur Zugbrücke führte.
Weil man sie von der Hinterseite des Palastes bis zur Arena und später zum Spital und dann wieder zurück zum Palast geführt hatte, besaßen sie jetzt, zusätzlich zu Giles’ Berichten, ein ziemlich genaues Bild von Xanadu. Vor ihrer Tür war eine große rechteckige Halle, von der ein anderes
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abging. Von dieser Halle führte ihr Weg an einigen Treppenaufgängen vorüber, ein paar Stufen hinauf zu dem kleinen Wachraum vor den Haremsgemächern und durch diesen zu einem Seitenausgang des Palastes. In der Halle lagen zwei Matratzen, die offenbar für die beiden Nachtwächter bestimmt waren. In den frühen Morgenstunden waren diese Männer vermutlich verschlafen und würden wenig Mühe machen, vorausgesetzt, dass sich die Tür geräuschlos öffnen ließ.
Modesty überlegte noch einmal die Situation, dann fuhr sie Willie durchs Haar. »Schlafen wir noch ein wenig«, sagte sie. »Ich bin sehr froh, dass du es heute Nachmittag warst und niemand anders, Willie, mein Herz.«
13
Der Zapfen glitt ins Schloss zurück. An der Tür kauernd, lauschte Modesty einen Moment lang, dann schob sie einen Finger unter den Türspalt und
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