Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
trug.
Verlangen überkam ihn. Noch immer ihre Hand haltend, murmelte er flehentlich: »Nannie, ich weiß, es ist keine Schlafenszeit, aber … ich will sagen, ich war sehr beschäftigt und … ich hätte nichts dagegen, mich ein wenig hinzulegen. Aber wenn ich jetzt ins Bett ginge, würdest du … ich meine, du weißt schon. Würdest du kommen und mir gute Nacht sagen und … dich zu mir legen?«
Die letzten Worte waren beinahe unhörbar, und er wusste, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte.
Nannie Prendergast entzog ihm die Hand und erhob sich.
Die Hände auf dem Rücken gefaltet, den Kopf gesenkt, stand er ebenfalls auf. Es wurde ihm kalt vor Angst.
»Du solltest dich schämen, Master Jeremy!«, sagte sie mit zutiefst empörter Stimme. »Ja, schämen! Was ist in dich gefahren? Weißt du nicht, dass jetzt
Teezeit
ist?«
»Bitte verzeih, Nannie.« Ganz leise gemurmelt.
»Ich glaube, junger Mann, du solltest sofort auf dein Zimmer gehen. Und du kannst sicher sein, dass eine ganze Weile vergehen wird, bevor Nannie dir wieder gute Nacht sagen kommt.«
9
Modesty berührte seinen Arm und sagte: »Jetzt biegen wir bald ab, Willie, ich glaube, nach etwa einem Kilometer.«
Er nickte und nahm die Hand vom Lenkrad des Landrovers, um die schwitzende Handfläche an seiner Hose abzuwischen. Wenn sie einen Kilometer sagt, überlegte er, dann wird es auch ein Kilometer sein, obwohl sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr hier war.
Ihr Orientierungsvermögen war ebenso unglaublich wie ihr Gedächtnis für Landschaften.
Sie hatten Korsika vor zehn Tagen verlassen und einen großen Umweg gemacht, um alle Verfolger abzuschütteln. Wenn man mit dem Flugzeug reist, ist die Gefahr, beschattet zu werden, groß. Man bewegt sich auf vorgezeichneten Routen und muss an bestimmten Punkten auftauchen. Daher hatten sie es vorgezogen, quer durch Spanien bis Lissabon zu fahren. An einem Strand östlich von Cascais wurden sie eines Nachts von einem Schiff abgeholt. Vier Tage später gingen sie in Essaouira an Land, wo sie ein voll ausgerüsteter Range Rover erwartete. Auf einer Seite stand in sauber gemalten Buchstaben
Pascale et Cie (Arpenteurs)
. Hinten im Wagen konnte man einen Theodolit und andere Vermessungsgeräte sehen. Moulay war ein guter und erfahrener Organisator. Marrakesch passierten sie in der Nacht, fuhren über den Tizin’Tichka-Pass im Hohen Atlas und weiter ins Dades-Tal, um der langen Ost-West-Straße zwischen den beiden Bergketten zu folgen. Im Norden gruben sich tiefe Schluchten in die Berge, die jetzt trocken waren, aber in der Regenzeit reißende Flüsse führten.
Zwischen den kleinen, von Mauern umgebenen Dörfern lag die Leere der steinigen Wüste, nur von gelegentlichen Dornenbüschen, Opuntien und jenen vielfarbigen Felsblöcken unterbrochen, die manchmal rot und schwarz, gelb, purpur oder braun und dunkelgrün waren. Modesty sagte: »Hier ist es«, und Willie bog in die breite Landstraße ein, die von der Ksar-es-SoukStraße etwas nördlich abzweigte. Sie stieg etwa achthundert Meter langsam an und führte dann wieder abwärts. Hier zweigte eine andere Straße direkt nach Norden ab. »Die ist neu«, sagte Modesty. »Ich meine, neu, seit ich das letzte Mal hier war.«
Willie hielt den Wagen an. Die Straße sah aus, als ob sie einmal viel befahren worden war, denn die Felswände zu beiden Seiten waren abgesplittert und abgekratzt wie von breiten, schweren Lastwagen. Ein seltsam anmutendes internationales Straßenzeichen besagte »Sackgasse«.
»Xanadu?«, murmelte Modesty.
Willie nickte. Als Prinz Rahim Mohajeri Azhari Xanadu erbaute, hatte er zur Materialbeförderung eine Straße in die Berge sprengen lassen. Modesty kannte einen französischen Journalisten, der die Sache für
Paris Match
recherchiert und darüber geschrieben hatte. Sie hatte ihn von Marseille aus angerufen und erfahren, dass Xanadu etwa vierzehn Kilometer von der Ksar-esSouk-Straße entfernt in den Bergen lag, östlich der Todra-Schlucht. Man hatte sechs Monate gebraucht, um die Zufahrtsstraße zu bauen, obwohl sie zum Großteil einem alten Maultierpfad folgte. Drei Kilometer vor dem Palast verließ die Straße den Saumpfad und überquerte eine Schlucht. Nach Beendigung der Bauarbeiten hatte man die zwanzig Meter lange provisorische Brücke abgerissen und sie durch eine Zugbrücke ersetzt. So war man sicher, dass niemand Xanadu ohne Erlaubnis des Prinzen betreten konnte. »Oder verlassen«, hatte der französische Journalist
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