Modesty Blaise 10: Der Xanadu-Talisman
Regale. Er muss viel Zeit damit verbracht haben, das Zeug zu sortieren, in Schachteln zu ordnen und ganz allgemein den Ort halbwegs in Ordnung zu halten. Trotzdem war er von oben bis unten mit Krimskrams voll gestopft. Ich nehme an, dass er ein zwanghafter Sammler war und vermutlich heute noch ist, obwohl Gott allein weiß, wo er das Zeug untergebracht hat, das er in den fünfzehn Jahren seit meinem Besuch angehäuft hat. Damals interessierte mich das alles nicht sehr. Ich wollte bloß mein Rad verkaufen und zu Lob zurückkehren. Ich wusste, dass Alâeddin nicht viel zahlen würde, aber so, wie wir lebten, sollte es uns ein paar Monate weiterhelfen.«
Der Kauf wurde abgeschlossen, sie verließ den Einsiedler mit dem Geld und ihrem Esel und beschloss, lieber den Pfad über die Berge statt den üblichen Weg zu wählen. Schon bevor Lob sie erzogen hatte, hatte sie selbst das Vergnügen entdeckt, sich sauber und frisch zu fühlen. So geschah es, dass sie zwei Tage später im Morgengrauen nackt in einem eisigen Bergbach badete, als der große, knochige, schmutzige Mann auf dem Maultier daherkam. Er rief sie, und als sie nicht aus dem Wasser kam, nahm er ihren Esel und ritt fort. Sie lief ihm nach. Als er sich umdrehte und sie einfing, verteidigte sie sich mit aller Kraft, aber er warf sie zu Boden und versetzte ihr mit seinem dicken Knüppel einen Schlag auf den Kopf. Als sie aus dem grauen Nebel erwachte und erbrach, waren ihre Hände auf den Rücken gebunden.
»O du lieber Gott«, murmelte Willie Garvin. Er stand auf und begann ziellos hin und her zu gehen.
Sie lag, den Arm über der Stirn, auf dem Bett und fuhr fort: »Reg dich nicht auf, Willie. Es geht mir gut.«
Eine kleine Pause, dann fuhr sie fort: »Als er mich gehabt hatte, band er meine Füße zusammen. Als es Zeit zum Schlafengehen war, band er ein Ende seines Knüppels an meinen Hals und das andere an sein Handgelenk, um zu spüren, wenn ich eine Bewegung machte. Am nächsten Tag zogen wir den Weg zurück, den ich von Alâeddin gekommen war. Er befreite meine Hände und lockerte die Fessel um meine Füße, sodass ich gehen konnte. Ich glaube, ich hätte schnell weglaufen und einen Felsen neben dem Pfad hinaufklettern können. Er wäre nicht im Stande gewesen, mir zu folgen. Aber ich konnte es mir nicht leisten, meinen Esel und das Geld zu verlieren. Es war alles, was ich besaß.«
Willie Garvin kam zurück und setzte sich auf die Bettkante, sah auf sie herab und kaute seine Lippe.
Plötzlich lachte sie ihn an und sagte: »Kopf hoch, Willie, das ist keine Horrorgeschichte. Ich erzähle dir nur, was sich zugetragen hat.«
»Ich möchte diesen gemeinen Kerl finden und umbringen.«
»Das wäre zu spät. Am nächsten Abend nahm er mich wieder, aber da war es mir bereits gelungen, meine selbst gebastelte Waffe an mich zu bringen.«
»Den großen Nagel, den du an ein Stück Holz angebunden hattest?«
»Ja. Am Abend vorher hatte ich mich ganz verängstigt gezeigt, deshalb hatte er mich diesmal nicht angebunden, und als er auf mir lag und in mich einzudringen versuchte, habe ich ihn getötet.«
Er nickte langsam. »Das muss ein wenig … traumatisch gewesen sein.«
»O Gott, ja. Ich glaube, nachher rollte ich mich eine halbe Stunde lang wie ein Embryo. Als ich endlich stehen konnte, zog ich seine Leiche einen hohen Felsen hinauf und ließ sie in einen Abgrund fallen. Vermutlich wurde sie nie gefunden. Dann nahm ich sein Maultier und meinen Esel und marschierte in der Dunkelheit weiter bis zu einer anderen Quelle, an die ich mich erinnerte. Eher ein Flüsschen mit einem felsigen Ufer.
Das Wasser war eisig, aber ich tauchte unter und rieb mich mit einem alten Tuch ab und blieb im Wasser sitzen, bis ich blau wurde. Dann stieg ich heraus. Es war eine warme Nacht, der Felsen war noch sonnendurchwärmt, und ich blieb eine Weile liegen, dann ging ich nochmals ins Wasser und rieb mich wieder ab. Ich wollte gleichsam die Erinnerung aus meinem Gedächtnis reiben. Schließlich legte ich mich auf den Felsen und schlief ein …«
Sie lag da und drängte die Erinnerung tiefer und tiefer in die schwarze samtene Dunkelheit des Unterbewusstseins, bis ihre Sinne sich verwirrten und sie weder wach war noch schlief. Aber aus dieser Ermattung versank sie allmählich in tiefen Schlaf, bis die Kälte der Nacht sie weckte. Sie zog ihre kurze, zerrissene Dschellaba an, die noch feucht war von dem wilden Waschen, und wanderte mit dem beladenen Maultier und dem Esel den Weg
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