Mörder im Zug
Gefühl bekam, ein Irrenhaus zu besuchen. »Wäre vielleicht sogar in Rostock ein Skandal.«
»Penelope Pastor provoziert gern«, fuhr die Journalistin fort. »Im Moment beschäftigt sie sich mit der Angst der Männer vor dem Weiblichen. Sie ist Künstlerin, und die Kunst ist frei – sogar in Güstrow.«
»Und was hat das mit Barlach zu tun? Ich kenne dieses Drama nicht. Wie war der Titel? Die tote Mutter?«
»Der tote Tag. Es kommt eine sehr böse, ihren Sohn beherrschende Mutter darin vor. Frau Pastor hat die Ausstellung selbst angeregt. Gerade um diese männlichen Angstbilder war es ihr zu tun; eben die verschlingende Mutter, aber auch die verschlingende Frau an sich. Man hält das Weibliche immer für das lebensspendende und behütende Prinzip, aber es hat auch einen Todesaspekt. Bitte.« Miriam Jegorow reichte eine Ausgabe der Zeitung über die Schreibtische. »Können Sie mitnehmen.«
»Danke.« Barbara öffnete ihre Handtasche und stopfte die tödlichen Weiber neben ihre Waffe. »Welche Fraktion hat sich denn durchgesetzt? Die Befürworter oder die Gegner zahnbewehrter Genitalien?«
»Lange stand es auf Messers Schneide. Herr Rauch, ein stadtbekannter Unternehmer, hat dann ein Machtwort gesprochen. Bei der gestrigen Eröffnung hing das Bild noch.«
Barbara seufzte. »Wieso kann Herr Rauch ein solches Machtwort sprechen?«
»Na, er sitzt in Güstrow in allen möglichen Gremien. Auch im Kuratorium der Wollhalle . Außerdem hat er 20 000 Euro für die Ausstellung gegeben.«
»Und das Werk von Penelope Pastor liegt ihm besonders am Herzen?«
»Nicht nur das Werk.« Miriam Jegorow lächelte wieder. »Die beiden sind ein Paar.«
***
Noch bevor die Handy-Ortung starten konnte, klärte sich das Verschwinden der Zeugin Ball. Sie hatte Frau Schack angerufen und mitgeteilt, dass sie sich beim Arzt befände. Dorthin war Uplegger nun unterwegs.
Die Fahrt war kurz, aber die Zeit reichte für ein Telefonat mit dem Rostocker Chef der DB Sicherheit. Das Ergebnis war mehr als mager. Der Mann schien Sokolowski kaum zu kennen und konnte sich dessen Versagen nicht erklären, da man seine Mitarbeiter ausreichend schule und auf alle Eventualitäten vorbereite. Uplegger strich im Geiste die Worte »ausreichend« und »alle«. Auf einen Mord im Zug war Sokolowski nicht vorbereitet gewesen – oder er hatte irgendeinen Grund für sein Verhalten, für das der Chef die Formulierung Versagen nicht gelten lassen wollte: Seine Wachleute versagten nicht. Es würde Uplegger nichts übrig bleiben, als ihn persönlich zu befragen, denn dann ließ er vielleicht doch etwas verlauten.
Der Allgemeinmediziner Dr. Emmelmann betrieb seine Praxis in der Hageböcker Straße und bot seinen Kunden neben hausärztlicher Versorgung auch Leckerli wie Homöopathie und TCM. Als körperlich kerngesunder Mensch vermutete Uplegger, dass sich hinter dem Kürzel eine aufsehenerregende technische Innovation verbarg, irgendeine schreckliche Maschine, in der man Platzangst bekam.
Die Kranken wussten TCM offenbar zu schätzen, denn das Wartezimmer war voll. Die Schwester am Empfang, die mit einer begriffsstutzigen Patientin telefonierte, nebenbei etwas ausdruckte und gleichzeitig die Post öffnete, zwang Uplegger, sich in Geduld zu fassen, also studierte er die an der Wand angebrachten Urkunden. Dr. Emmelmann stellte sein Licht nicht unter den Scheffel: Er hatte einen Kursus für die Behandlung von AIDS-Patienten besucht, sich für ein onkologisches Disease Management Programm ausbilden lassen und auch Feldenkrais nicht ausgelassen. Obendrein erfuhr Uplegger: TCM war das Kürzel für Traditionelle Chinesische Medizin.
Die Schwester beendete ihr Gespräch. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Sie machte ein verzweifeltes Gesicht, schickte den Anrufer in die Warteschleife und wandte ihre Aufmerksamkeit Uplegger zu.
»Sind Sie bestellt?«, erkundigte sie sich.
»Nein. Ich möchte …«
»Akutpatienten müssen vor neun in der Praxis sein«, verkündete sie in einem harschen und belehrenden Ton. Uplegger bekam sofort einen dicken Hals.
»Wo ist Frau Ball?«, fragte er.
»Wieso …?«
Schon donnerte sein Dienstausweis auf den Tresen. »Darum!«
»Ach, herrje! Polizei?« Die Schwester warf einen Blick ins Wartezimmer. »Die kleine Person am Fenster.«
Die schwesterlichen Worte trafen es genau. Sandy Ball hatte sich auf dem Freischwinger dermaßen zusammengerollt, dass es so aussah, als wolle sie um keinen Preis gesehen werden.
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