Mörder im Zug
Ihre Kleidung wirkte bemerkenswert hausbacken: helle Bluse mit Rüschen, knielanger Rock, Stiefel. Ihre Strickjacke hatte sie auf dem Schoß zusammengeknüllt, und ihre Augen, die ohnehin zu Boden gerichtet waren, verbarg sie zusätzlich hinter einer Sonnenbrille.
Uplegger trat ein und prallte sofort zurück. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, die Gespräche verstummten. Doch das irritierte ihn weit weniger als das großformatige Gemälde an der linken Wand. Die Malerei war ungegenständlich, bestand aus geometrischen Formen und war in Acrylfarben gehalten, die Uplegger bekannt vorkamen. Die schwarze Signatur P.P. IX/10 ließ keinen Zweifel aufkommen. Auch den Titel hatte Penelope Pastor mit schwarzer Farbe aufgebracht: Gesundheit beginnt im Kopf . Man musste von Glück sagen, dass Dr. Emmelmann kein Psychiater war.
»Frau Ball?« Uplegger beugte sich herunter und machte seine Stimme sanft.
Die Angesprochene hob zaghaft den Blick. Trotz der Sonnenbrille war der blauviolette Fleck zu sehen, der das linke Auge rahmte.
»Ja?«, hauchte sie.
»Jonas Uplegger von der Kripo Rostock«, sagte er. Soweit das in dieser Enge möglich war, rückten die Mitpatienten augenblicklich von ihnen fort.
»Aber ich habe doch schon im Zug …«
»Ich weiß. Trotzdem muss ich noch einmal mit Ihnen sprechen. Gründlicher, als es meine Kollegen konnten.«
Alle im Raum hielten den Atem an. Offenbar hatte sich der S-Bahn-Mord bereits in Güstrow herumgesprochen; für Upleggers Geschmack hatte das Radio viel zu früh darüber berichtet.
»Kommen Sie bitte vor die Tür«, sagte er. »Wir geben der Schwester Bescheid, und wenn Sie aufgerufen werden, soll man Sie holen.«
Aber die Dame vom Empfang hatte Vorsorge getroffen und den Arzt informiert, wofür ihr Uplegger dankbar war. Dr. Emmelmann war bereit, Sandy Ball sofort zu behandeln. Im Warteraum erhob sich ein Murren, jemand sagte: »Wir müssen auch warten!«, worauf eine Frau erwiderte: »So ist das doch immer.«
Uplegger hatte kein Interesse zu erfahren, was immer so war. Stattdessen versuchte er, mit der Schwester ins Gespräch zu kommen: »Sie haben da ein interessantes Bild im Wartezimmer.«
»Finden Sie?« Die Schwester schaute ihn skeptisch an. »Die meisten Patienten mögen es nicht. Zu modern. Aber die Malerin ist so etwas wie ein Star in Güstrow. Kommt aus Schwaan, und der Vater war auch schon Maler. Oder Bildhauer? Ein kleiner Barlach?« Sie feixte. »Ich glaube, der hat sich nach der Wende umgebracht. Keine Aufträge, kein Geld …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn sich alle, die kein Geld haben, umbringen würden, wäre es leer in Güstrow.«
»Und in der Praxis«, ergänzte Uplegger trocken.
»Das würde mich nicht stören. Der Doktor hat zehn Minuten für jeden Patienten und muss trotzdem Überstunden machen. Am Mittwochabend dann noch Feldenkrais, Donnerstag Akupunktur … und der ganze Schreibkram … Manchmal denke ich, wir behandeln gar keine Patienten, sondern Nummern und Papier. Und dann diese ewigen Reformen! Was hat die neue Regierung verkündet: Einfacher, einfacher, einfacher! Und was ist herausgekommen? Eine Beitragserhöhung. Wie immer.«
»Aber irgendjemand hat diese Regierung gewählt.«
»Wissen Sie, was mein Mann dazu sagt?« Die Schwester senkte die Stimme. »In einer Parteiendemokratie hat man nur die Wahl zwischen Leere und Vakuum. Müssen Sie mich nun einsperren?«
Uplegger lachte. »Aber ja.«
»Muss man im Gefängnis wirklich Tüten kleben? Dann nehmen Sie mich mit. Das ist eine überschaubare Aufgabe.«
***
Miriam Jegorow hatte vor Barbara mehrere Hochglanzbroschüren der Golden World Caviar Production ausgebreitet. Barbara blätterte, ohne irgendetwas Besonderes zu bemerken: Das Gedruckte strotzte vor Eigenlob, aber es diente ja auch der Werbung.
»Fällt Ihnen nichts auf?«, fragte die Volontärin.
»Helfen Sie mir auf die Sprünge«, bat Barbara.
»Der eine Prospekt stammt von 2006, der andere vom Frühjahr dieses Jahres. Achten Sie mal auf die geplante Produktmenge.«
»Zehn Tonnen Kaviar.« Barbara verstand immer noch nicht.
»Genau. Der geplante Ausstoß hat sich nicht geändert.«
Langsam fiel der Groschen. »Er wurde nie erreicht?«
»Nie«, bestätigte Miriam. »Im besten Jahr, das war 2008, schaffte man mit Ach und Krach 800 Kilos. Als er in Güstrow antrat, versprach Rauch 170 neue Arbeitsplätze. Derzeit arbeiten bei Golden World 50 Leute. Außerdem soll sich Rauch frisches Geld nach dem verbotenen
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