Mörder im Zug
die so gar nicht wie eine gestandene Lokalredakteurin wirkte. Ihr blondes, leicht gewelltes Haar trug sie kurz, eine Frisur, die Barbara Kampflesbenschnitt getauft hatte, sie hatte wasserblaue Augen und einen Teint, der vermutlich bei anderen Frauen viel Neid erregte. Miriam Jegorow, so ihr Name, sah in ihren Jeans, dem hellblauen Kapuzenshirt und den Turnschuhen mit den berühmten drei Streifen wie eine Gymnasiastin aus.
»Was für eine seltsame Koinzidenz der Ereignisse, Frau Riedbiester«, sagte sie. Für eine Vertreterin der bildungsunwilligen Jugend drückte sie sich überraschend gewählt aus. »Gerade wollte ich Sie anrufen.«
»Mich?«
»Nein«, Miriam Jegorow setzte ein Lächeln auf, das Männer töten konnte, »die Polizei. Ich habe vor einer Viertelstunde mit dem Vorzimmer des Bürgermeisters telefoniert, weil der heute irgendwo ein Band durchschneidet. Da habe ich es erfahren.«
»Was haben Sie erfahren?« Barbara platzierte sich an den Schreibtisch, der dem der Journalistin gegenüberstand.
»Was gestern Abend in der S-Bahn passiert ist. Ich war auch in dem Zug.«
»Sie waren …?« Barbara starrte ihr Gegenüber mit einem erstaunten Gesichtsausdruck an.
»Ja.«
»In welchem Wagen?«
»Dem letzten.«
Barbara rekapitulierte in Sekundenschnelle Sokolowskis Aussage und kam zu dem Schluss, dass der Wachmann Tomaten auf den Augen gehabt haben musste.
»Der Mann vom Bahnschutz hat Sie gar nicht gesehen«, sagte sie.
»Doch, doch.« Die junge Frau hörte nicht auf zu lächeln. »Er kam schon zwischen Güstrow und Lüssow durch den Wagen. Ich sah nur anders aus. Gestern wurde eine neue Ausstellung in der Wollhalle eröffnet, und zu solchen Anlässen gehe ich natürlich nicht in Räuberzivil.«
»Natürlich nicht.« Barbara nickte. »Sie saßen im Oberstock, nicht wahr? Und Sie hatten ein anthrazitfarbenes Kostüm an, eine Art Trenchcoat und schwarze Stiefel.«
»Ja, das war ich. Er hat mich also doch wahrgenommen.«
Du bist ja auch nicht zu übersehen, dachte Barbara.
»Was ist das für eine Ausstellung?«, erkundigte sie sich.
» Die Große Mutter. Lieben und Verschlingen , heißt sie. Untertitel: ›Annäherungen an Ernst Barlachs Drama Der tote Tag ‹.«
»Das sind ja zwei Untertitel«, bemerkte Barbara.
»In gewisser Weise schon. Was meinen Sie, was es für endlose Diskussionen im Kuratorium gegeben hat. Mit Barlach kann man bei den Güstrowern immer punkten. Aber Lieben und Verschlingen? Viele meinten, man würde damit die Leute abschrecken, weil das nach Kannibalismus klingt. Jedenfalls nach sexuellen Perversionen.«
Dass diese Worte einer so jungen Frau umstandslos über die Lippen gingen, wunderte Barbara.
»Na, die dürften die Leute wohl eher anziehen«, sagte sie.
»Aber doch nicht in Güstrow. Hier gibt man sich moralisch.«
»Gerade dann. Die Moral ist ein dünnes Eis. Aber erzählen Sie mir mehr.«
»Schon im Vorfeld gab es einen kleinen Skandal.« Miriam Jegorow öffnete eine Lade ihres Schreibtisches. »Ich habe darüber geschrieben, nur ein paar Zeilen. Mein Chef wollte nicht, dass wir das an die große Glocke hängen. Er sitzt seit über 25 Jahren dort, wo Sie gerade sitzen, kennt in der Stadt Hinz und Kunz und eckt nicht gern an. Alle, die in Güstrow etwas zu sagen haben, packt er in Zuckerwatte. Sanfter statt investigativer Journalismus.« Sie lächelte nicht mehr. »Und ich bin bloß Volontärin. Meine Aufgabe besteht darin, mich ausbeuten zu lassen und ansonsten den Mund zu halten.«
»Dafür reden Sie ziemlich viel.«
»Bitte?«
»Das war überhaupt nicht böse gemeint. Fahren Sie fort! Was für ein Skandal?«
»Es ging um ein Bild von Penelope Pastor.«
Barbaras Körper spannte sich augenblicklich.
»Ich sehe, Sie kennen sie.«
»Kennen wäre zu viel gesagt. Sie war auch …« Barbara biss sich auf die Zunge. »Ich habe von ihr gehört.«
»Das inkriminierte Gemälde war ein Großformat, drei mal vier Meter. Titel: Vagina dentata römisch Eins .«
»Pardon, habe ich mich verhört? Latein war an meiner Schule fakultativ … ich hab es nicht besonders ernst genommen. Vagina dentata – ein weibliches Geschlechtsorgan mit Zähnen?«
»Genau. Hat etwas mit der Mythologie der Navajos und Apachen zu tun. Bei denen gibt es viele Legenden über herumwandernde beißende Vaginen. Die schärfste ist wohl die Erfüllte Vagina, die es mit Kakteen treibt.«
»Mein Gott, das ist vielleicht wirklich nichts für eine Kleinstadt«, meinte Barbara, die langsam das
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