Mörder im Zug
hören.
»Sind es 90 Prozent?«
»Keine Ahnung. Aber jedenfalls ist es die Mehrheit. Die Leute fürchten sich vor dem Mörder auf dunkler Gasse, dabei haben sie ihn meistens im Haus.«
»Ja, ja, der allgegenwärtige unauffällige und nette Nachbar, dem man es nicht zugetraut hätte. Den liebe ich besonders. Also, bis morgen – wenn nicht noch was Unvorhergesehenes eintritt. Ciao, bella!«
»Ciao, bellissima!«, erwiderte ihre Kollegin und trennte die Verbindung. Barbara wurde schlagartig bewusst, dass Upleggers Italienischkenntnisse die sprachlichen Gewohnheiten ihres Kommissariats geprägt hatten, und sei es auch dadurch, dass man sich über sie lustig machte.
Schaukästen zogen Barbara Riedbiester seit jeher magisch an. Auch den der Gemeinde Neu Wiendorf nahm sie in Augenschein. Seit längerem gab es anscheinend nichts Wichtiges zu verkünden. Neben der Tagesordnung einer Gemeindesitzung vom Juni hing die Bekanntmachung des Amtsgerichts Rostock aus dem gleichen Monat, die Zwangsversteigerung von Grundstücken betreffend, und daneben wiederum das von der Feuchtigkeit gewellte Plakat für das Dorffest im August. Großartig, dachte Barbara, als sie von einer Hüpfburg, von der Tombola mit Kaffee und Kuchen und vom Tanz im Saal mit DJ Bimmel las. Die Jagdhornbläser des Hegeringes Schwaan hatten das Fest eröffnet, es hatte ein Lagerfeuer gegeben, ein Fußballspiel und einen Auftritt des Unterhaltungsstars Tenor Fischi . Hornblasende Tiermörder, DJ Bimmel, Tenor Fischi! Barbara schüttelte den Kopf. Das konnte man sich nicht ausdenken, also war es wohl real.
»Frau Riedbiester?«, rief jemand in Barbaras Rücken. »Die Dame von der Kripo?«
Barbara drehte sich um. Am Zaun eines Eckgehöfts stand eine äußerst schlanke Frau von Mitte dreißig, der das kastanienbraune Haar bis auf die Schultern reichte. Sie trug eine randlose Brille und war bekleidet mit einer Trainingshose und einem Fleischerhemd, das über und über mit Farbe bedeckt war. Die hervortretenden Wangenknochen verliehen ihr ein leicht asiatisches Aussehen, dem jedoch die großen Augen widersprachen. Deren Braun wurde erst beim Nähertreten erkennbar. Natürlich hatte Barbara sofort ein Wort für sie: Kuhaugen.
»Riedbiester ist ein ungewöhnlicher Name«, meinte die Malerin, während sie ihre Besucherin von Kopf bis Fuß musterte.
Barbara reagierte empfindlich, wenn man sich über ihren Namen mokierte, der vielleicht nicht schön war, aber immerhin rar.
»Penelope Pastor auch«, sagte sie also. »Oder ist das ein Pseudonym?«
»Nein. Falls Sie es nicht wissen sollten, mein Vater war ebenfalls Künstler und wie Barlach auch ein Poet. Er liebte die Alliteration. Kommen Sie, oder wollen Sie erfrieren? Wir gehen ins Atelier, die Doppeltür ist breit genug.«
Diese Worte trafen Barbara wie Peitschenhiebe. Eine Anspielung auf ihren seltsamen Namen konnte sie noch verkraften, nicht aber eine auf ihre Körpermassen. Trotzdem schwieg sie, folgte der Frau, die Heiner Konwitschny für eine Obdachlose gehalten hatte, und musste in Erinnerung daran wider Willen schmunzeln. Als Geliebte von Simon Rauch und als Güstrower Berühmtheit nagte sie kaum am Hungertuch, und das Anwesen sprach auch für eine ziemlich hohe Kante. Außer dem Bauernhaus, das unlängst eine frische Schicht weißen Putzes und neue Fenster erhalten hatte, gab es eine Remise, vor der ein Heizöltank stand, sowie ein langgestrecktes Gebäude mit Oberlichtern, das vielleicht einmal ein Stall gewesen war. Da Penelope Pastor auf eben diesen Bau zuging, musste er das Atelier beherbergen.
»Ich muss schon sagen, dass ich seit Ihrem Anruf etwas wacklig auf den Beinen bin.« Penelope Pastor öffnete beide Türflügel, obwohl einer gereicht hätte. »Wenn ich mir vorstelle … Ich war ja in diesem Zug und … Nein, bloß nicht!«
Barbara fragte noch auf der Schwelle: »Wissen Sie, wen es erwischt hat?«
»Wie sollte ich?« Die Zeugin bedachte Barbara mit einem misstrauischen Blick.
»Simon hat sie nicht angerufen?«
»Welcher Simon?«
»Rauch.« Barbara war überrascht von der Größe des Ateliers. Wenn es wirklich ein Stall gewesen war, so hatte man alle Trennwände entfernt und einen einzigen Raum geschaffen, der in der Länge etwa 50 und in der Breite etwa 20 Meter maß. Es musste ein Vermögen kosten, ihn im Winter warm zu halten – sehr warm war es im Übrigen nicht.
»Warum sollte ausgerechnet Rauch mich anrufen?«, fragte die Malerin.
»Vielleicht, weil Sie ein Paar sind?«
»Wir
Weitere Kostenlose Bücher