Mörder im Zug
den Ort«, sagte Uplegger.
»Mit dem Kinderwagen etwa eine halbe Stunde …«
»Sie waren gestern Abend bei diesem Wetter noch ungefähr eine halbe Stunde unterwegs?«, fragte Uplegger entsetzt. »Allein?«
»Hm.«
»Wer hat Ihnen eigentlich aus dem Zug geholfen?«
»So ein zugezogener Typ, der vor paar Jahren am Dorfanger gebaut hat. Ich habe keine Ahnung, wie der heißt. Ist ziemlich hochnäsig. Seine Frau auch. Sie halten sich für etwas Besseres.«
Giehlow, dachte Uplegger. Von Sandy Ball hatte der bei der Vernehmung gar nichts gesagt.
Sie hatten die Nebelbrücke erreicht, und der Bahnhofsplatz war bereits zu sehen. Uplegger war noch immer nicht bereit, die junge Frau einfach ziehen zu lassen, denn das würde bedeuten, dass ihr wieder ein halbstündiger Fußmarsch bevorstand.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er daher. »Pölchow und den Bahnhof will ich mir sowieso anschauen. Ich setze Sie so ab, dass Ihr Mann nichts davon mitbekommt.«
»Haben Sie jemals in einem kleinen Dorf gewohnt?«
»Nein. Ich habe immer in Rostock gelebt.«
»Auf dem Dorf beobachtet jeder jeden. Glauben Sie mir, es ist egal, wo Sie mich absetzen. Wenn ich aus dem Auto eines fremden Mannes steige, macht das ganz schnell die Runde.«
»Und dann schlägt Danilo Sie wieder?«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte die Frau neben ihm, nun auffallend fest. Jonas Uplegger gab auf.
***
Die nächste Station auf Barbaras Agenda war Penelope Pastor. Durch einen Anruf wusste sie bereits, dass ihr Kollege Sandy Ball gefunden hatte. Durch das lange Gespräch mit Miriam Jegorow erschöpft, bedurfte sie neuer Kräfte. Einen kurzen Spaziergang durch die Güstrower Wallanlage verwarf sie nicht nur wegen der Kälte bereits auf dem Weg zum Wagen. Stattdessen stand ihr der Sinn nach etwas Wärmendem.
Am Bahnhofsimbiss kaufte sie sich noch einen Glühwein, dann nahm sie die L 142, die in Güstrow, wenig überraschend, als Schwaaner Straße begann und über die Dörfer Lüssow und Mistorf führte, um schließlich als Güstrower Straße Schwaan zu erreichen. Links und rechts der wenig befahrenen Landstraße erstreckten sich Äcker und Wiesen, auf denen sie hier und da ein baumbestandenes Soll ausmachen konnte. Sie passierte winzige Dörfer mit Namen wie Augustenruh, Goldewin und Rukieten, und einmal entdeckte sie sogar einen Sprung Rehe. Die fünf Tiere starrten sie an, bevor sie sich entschieden, in Richtung von einigen Bäumen davonzusprengen. Es schneite, und über die weite Landschaft wölbte sich ein niedriger Himmel von suizidalem Grau.
Die Kleinstadt Schwaan machte auf Barbara einen anheimelnden Eindruck. Die Menschen versuchten, dem trüben Wetter etwas entgegenzusetzen: In vielen Fenstern leuchteten die elektrischen Kerzen von Schwibbögen, und die ersten Plastikweihnachtsmänner, ebenfalls beleuchtet, kletterten an Fassaden hoch. Auf dem Markt wurde gerade eine Tanne errichtet, die vielleicht auch eine Fichte war; die Natur war für Barbara ein Buch mit sieben Siegeln, und ihr genügte es, eine Blume von einem Baum unterscheiden zu können.
Um die Straße An der Warnow in Neu Wiendorf zu finden, musste Barbara zweimal anhalten und Passanten fragen. Auf diese Weise erreichte sie den Büdnerweg, der über die Bahngleise führte. Ungefähr 200 Meter von dem beschrankten Übergang entfernt standen zwei Polizeiwagen am Rand eines Ackers. Ein Dutzend Uniformierter suchte das Feld ab. Es war kurz vor drei, doch mussten sie schon Taschenlampen benutzen. Barbara hielt und rief Ann-Kathrin Hölzel an. So erfuhr sie nicht nur, dass die Tatwaffe noch nicht gefunden worden war, sondern auch das vorläufige Ergebnis der Autopsie: Auf Andriejus Medanauskas war achtmal eingestochen worden. Mehrere Stiche waren lebensgefährlich gewesen, aber gestorben war er an einer Herztamponade. Der Täter hatte das alles versorgende Organ getroffen, vermutlich eher zufällig.
»Acht mit Wut ausgeführte und anscheinend ungezielte Stiche?« Barbara schaute sich um. An der Einmündung des Büdnerwegs in die Straße An der Warnow stand ein Schaukasten. »Ich kann mir nicht helfen, aber für mich hört sich das nach einer Beziehungstat an. Oder nach einem Hassverbrechen, wie Breitbart es genannt hat. Dumm nur, dass sich scheinbar niemand im Zug befunden hat, der für eine solche Tat in Frage kommt. Keine Freunde, Verwandte, Geliebte oder Ex-Geliebte.«
»Also keiner der Leute, die 90 Prozent aller Morde begehen?«, war von Ann-Kathrin Hölzel zu
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