Mörder im Zug
sind kein Paar. Das sind Gerüchte.«
Barbara war überzeugt, dass sie log. Eine winzige Abweichung in ihrem Mienenspiel verriet es ihr.
An den Wänden aufgereiht standen, die bemalte Seite verbergend, etliche Gemälde unterschiedlichen Formats. An zwei verschiedenen Stellen befanden sich Staffeleien, vor ihnen je ein Drehstuhl und daneben ein Beistelltisch mit einer Palette, Farbtuben, Sprühdosen, Pinseln, Kaffeetöpfen und überquellenden Aschenbechern. Es gab eine große Werkbank, auf der Zeichenblätter, Kohlestifte, Tapetenmesser und andere Utensilien herumlagen, außerdem ein Berg von Leinwandresten und Dutzende von Büchern. Zwei Weinflaschen und ein Glas verrieten eine weitere Inspirationsquelle.
Im Atelier verteilt gab es sieben Stühle, was Barbara sofort an die sieben Zwerge denken ließ. Die Hausherrin holte einen von ihnen und stellte ihn in die Nähe der rechten Staffelei. Sie fingerte eine Pappschachtel aus der Brusttasche ihres Fleischerhemds, klopfte eine Zigarette heraus, schob sie in den Mund und tastete in der Trainingshose nach dem Feuerzeug.
Mit einer Kopfbewegung bat sie ihre Besucherin, näher zu treten.
»Gerüchte also«, wiederholte Barbara. Auf dem Beistelltisch entdeckte sie zwei weitere, mit Farbe bekleckerte Bücher: C. G. Jungs Symbole der Wandlung und eines mit dem Titel Das Matriarchat. Mythen und Archetypen . »Ich sehe, dass Sie sich mit Mythologie befassen.«
»Ja.« Penelope Pastor zündete sich die Zigarette an. »Ich habe die abstrakte Phase hinter mir gelassen und widme mich wieder verstärkt der gegenständlichen Malerei. Möchten Sie Wein?«
Barbara schüttelte den Kopf.
»Sie haben doch schon getrunken«, bemerkte die Malerin und trat zur Werkbank. »Ihre Fahne ist mir nicht entgangen.«
»Einen Glühwein zum Durchwärmen«, gab Barbara zu.
»Und dann fahren Sie Auto?« Penelope schenkte sich ein.
» Ein Glühwein!« Barbara schaute hinauf zum Dach. Die Oberlichter waren mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die nur sehr wenig Licht hindurchließ. Auf die Leinwand war daher ein Strahler gerichtet. Nach dem Blick in die Höhe widmete sich Barbara dem, was die Künstlerin unter gegenständlicher Malerei verstand. Eine Vagina dentata blieb ihr zwar erspart, aber irgendetwas Weibliches hatte der Güstrower Malerstar schon auf die Leinwand gebracht: eine Art Meerjungfrau mit Brüsten, an denen zwei Wesen sogen, die wie zusammengewachsene Polypen aussahen. Die in einem orangestichigen Ocker gehaltene Malerei wirkte wie das Werk eines frühreifen Kindes.
»Vielleicht sind Sie trainiert«, sagte Penelope. Aus dem Augenwinkel sah Barbara sie sich mit Glas und Weinflasche nähern.
»Trainiert?«
»Mit Alkohol. Sie sehen so aus.«
Barbara fuhr entrüstet herum. Penelope lächelte.
»Wie sehe ich aus?«
»Wie jemand, der zu viel trinkt. Ich will Ihnen nicht auf den Schlips treten, aber …«
»Hören Sie, es geht hier nicht um mich!« Barbara war drauf und dran, aufzuspringen und dieser Leinwandbeschmiererin mit den Fingernägeln ins Gesicht zu fahren.
»Um Sie ging’s wahrscheinlich noch nie.« Penelope stellte die Flasche zwischen Jung und das Matriarchat. »Gefällt Ihnen mein Bild?«
»Sehr.«
»Lügen haben kurze Beine.« Die Malerin nahm einen Schluck. »Das ist Sedna, eine Gestalt der grönländischen Mythologie. Sie wurde auf den Meeresboden verbannt, weil sie die Heirat mit einem von ihren Eltern erwählten Mann verweigerte. Sie machte ihr eigenes Ding, könnte man sagen. Wer sein eigenes Ding macht, verurteilt sich manchmal zur Isolation. Eine Künstlerin kann das ja noch, von ihr wird es sogar erwartet. Aber die meisten schwimmen doch lieber mit dem Strom. Wie eh und je.« Sie seufzte. »Wenn ich ehrlich bin: Das Publikum zu provozieren, gehört heutzutage auch zum Mainstream. Wir alle tragen unsere Haut zu Markte, weil alles Markt ist.«
»Stammt das Gemälde in Rauchs Büro von Ihnen?«
Penelope nickte. »Er hat es mir abgekauft. Bei der letzten Rostocker Kunstnacht. Es ist also kein Liebesgeschenk, wie Sie sicher vermutet haben. Na, nicht doch einen?« Sie setzte sich auf den Drehstuhl und plinkerte mit dem Fingernagel gegen die Flasche. »Ist ein sehr guter apulischer Tropfen.«
Schon wieder Italien, dachte Barbara, während sie sagte: »Sie haben ja kein zweites Glas.«
»Und ob.« Penelope beugte sich vor und zog unter dem Beistelltisch einen Karton hervor. »Von der letzten Atelierfete. Mache ich zweimal im Jahr, zur Kontaktpflege. Sie
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