Mörder im Zug
verschlucken.
III Bier
Uplegger war groggy. Da der Erste Angriff bei einem Mordfall nicht nur seine ganze Kraft erforderte, sondern vor allem Arbeit fast rund um die Uhr, war es Usus, dass er seinen Sohn in solchen Phasen zu Oma und Opa Südstadt brachte. Schon als Dreikäsehoch hatte Marvin seine Großeltern so genannt; der Name war ein Exzerpt des Satzes ›Wir gehen heute zu Oma und Opa in die Südstadt‹. Oma und Opa Südstadt waren Upleggers Eltern; die seiner Frau hatten zuerst Oma und Opa Graal-Müritz geheißen, wovon der Einfachheit halber Gra-Mü übriggeblieben war. Inzwischen gab es allerdings nur noch Oma Gra-Mü.
Uplegger stellte den Audi in ein Halteverbot und klemmte die amtliche Ausnahmegenehmigung hinter die Windschutzscheibe. Mittlerweile schneite es allerdings so stark, dass dieselbe in Windeseile bedeckt war.
Marvin zu seinen Großeltern zu bringen, bedeutete jedes Mal Kampf. Nicht dass der Junge sie nicht liebte, er hielt es nur für überflüssig. Mit fast 14 glaubte er, keiner Aufsicht mehr zu bedürfen. Uplegger war der gegenteiligen Meinung. Bald strafmündig, sagte der Sohn. Also noch unreif, dachte der Vater.
Uplegger stieg aus. Er hatte eine endlose Debatte, viel Geschrei und Türenschlagen und schließlich einen Sieg hinter sich, der damit begann, dass Marvin grollend und schmollend seinen Rucksack packte. Auf der Fahrt in die Südstadt hatte er kein Wort gesprochen, er hatte sich nicht verabschiedet und war sofort in das Zimmer gestürzt, das für ihn freigehalten wurde. Der Sieg schmeckte bitter. Und er würde noch bitterer schmecken, wenn sein Junge aus dem Oma-und-Opa-erlauben-alles-Wellness-Paradies zurückkam. Dieses Hin und Her, dieses Auf und Ab zerrte mächtig an Upleggers Nerven.
Bevor er nach Hause gefahren war, sich dem unvermeidlichen Erziehungskrieg zu stellen, hatte er den Hauptbahnhof aufgesucht, um den Chef und außerdem zwei Kollegen von Sokolowski zu befragen. Von allen war ihm der Wachmann als einsatzbereit, freundlich und höflich beschrieben worden, Formeln, die so gut wie nichts aussagten. Sokolowski fiel nie aus, war nie krank, rauchte nicht und trank nicht über den Durst, und er hatte keine Macken, außer seiner Vorliebe für Zahlen. Über sein Privatleben wusste niemand etwas. Offenbar war er Junggeselle. Ob es hin und wieder eine Frau gab, wusste man nicht. Manchmal sprach er vom Angeln, daher nahm man allgemein an, dass er angle. Irgendwann hatte er erwähnt, dass er die dienstfreien Tage um die Weihnachtszeit bei seinen Eltern verbringe. Einmal hatte er einen Satz Sondermarken im Wachbuch vergessen und galt daher als Sammler. In der Sprache des Wachschutzes führte er ein Leben ohne Vorkommnisse. Ein Leben ohne Leben.
Auch Barbara hatte eine häusliche Pflicht zu erfüllen gehabt: Zweimal am Tag musste sie ihrem zuckerkranken Kater nach einer Mahlzeit Insulin spritzen, und sie bemühte sich, es möglichst regelmäßig zu tun, wobei ihr der Beruf häufig einen Strich durch die Rechnung machte. Bruno erwartete sie stets mit einem gewaltigen Miauen als Zeichen eines noch gewaltigeren Hungers. Da er jedoch abnehmen musste, sättigte ihn die Mahlzeit nicht, also miaute er, bis Barbara das Herz blutete. The same procedure as every day – und Barbara verließ mit schlechtem Gewissen die Wohnung.
Auf dem Weg zum Wagen erhielt sie einen Anruf von Ann-Kathrin, die sie mit dem üblichen »Ciao, bella!« begrüßte. »Was hat die Abendstund im Mund?«
»Arbeit. Und bei dir?«
»Ich habe mich mit Andriejus’ Ex befasst, der Lehrerin.«
»Claudia Brinkmann?«
»Sì, sì, sì! Lass es mich so zusammenfassen: Sie macht ihre Arbeit.«
»Unglaublich! Gut?«
»Keine Ahnung.«
»Also schlecht?«
»Weiß ich nicht. Mein Eindruck ist: So lala. Laviert sich durch. Aber da wäre etwas, das dich vielleicht interessiert …« Ann-Kathrin machte eine Pause, um Barbara auf die Folter zu spannen.
Die legte daher eine künstliche Atemlosigkeit in ihre Frage: »Worum handelt es sich denn?«
»Um ein Drogenereignis während einer Klassenfahrt. Rauschgift hat es in den Akten. Ein Schüler ist im Rausch aus dem Fenster gesprungen.«
»Nein!« Nun war Barbara wirklich außer Atem. »Tot?«
»I wo, bloß ein angeknackster Knöchel. Ich lege dir die Sache auf den Tisch.«
»Danke. Ciao, bellissima!«
»Ciao, ciao, ciao«, sagte Ann-Kathrin und legte auf.
Drogen auch bei der Exfreundin, dachte Barbara und öffnete die Fahrertür. Sie hatte geplant, beide Restaurants
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