Mörder im Zug
nicht mehr.«
»Nein? Da muss mir was entgangen sein. Ich dachte, die 1. EOS Ernst Thälmann wurde nach der Wende in Goethegymnasium umbenannt? Da war ich übrigens. Also, an der 1. EOS. Keine schöne Zeit. Jeder Furz war politisch.«
»Ich war an der Herderschule. Erweiterter Russischunterricht. Auch nicht das Gelbe vom Ei.« In der Doberaner Straße fuhren sie an dem Ruinengelände der ehemaligen Schnapsbrennerei Anker vorbei, seit Jahren ein Dauerbrenner in der Stadtverwaltung und der Presse. Der Käufer hatte bisher keinen müden Cent in die historischen Gebäude investiert, und mittlerweile sah es aus, als setze er auf einen Abriss durch Wind und Wetter sowie durch Brandstifter. Uplegger musste in Höhe des ebenfalls ruinösen Volkstheaters hinter einer Straßenbahn stoppen. »Seit der Zusammenlegung von Großer Stadtschule und Goethegymnasium sagt man jetzt Innerstädtisches Gymnasium.«
»Wie poetisch! Aber stimmt, bei mir dämmert’s. Ich begreife nur nicht … Halten die Laienspieler in der Bürgerschaft Goethe für einen kommunistischen Funktionär?«
»Ich habe keine Ahnung, wofür die Goethe halten«, sagte Uplegger und fuhr an.
Das Gebäude der Borwinschule mit seinem roten Mansarddach und dem Uhrenturm machte trotz einer gewissen Ähnlichkeit mit Kasernen oder Verwaltungsbauten den Eindruck, als könne man sich hier als Schüler wohlfühlen. Es war gerade große Pause, und während die jüngeren Jahrgänge herumtollten, sich mit Mini-Schneebällen bewarfen oder freundschaftliche Ringkämpfe austrugen, hielten sich die älteren in kleinen Gruppen abseits. Barbara und Uplegger ernteten aufmerksame, vielleicht sogar misstrauische Blicke von den Aufsicht führenden Lehrern, die sie allerdings gleichwohl passieren ließen, ohne sie anzusprechen.
Claudia Brinkmann war eine auffallend schlanke Frau an der Grenze zur Magerkeit, für die Barbara sofort der Begriff Hungerhaken einfiel. Sie trug Stiefel, enge Jeans, eine weiße Bluse und eine graue Herrenweste, ihr hennarotes Haar fiel ihr auf die Schultern, wobei die Farbe kein Werk der Natur war, sondern ein Wunder der Chemie. Die Schulleitung hatte ihnen für das Gespräch das gerade freie Physikkabinett zur Verfügung gestellt, ein Ort, der in Barbara unbehagliche Erinnerungen weckte. Als sie Claudia Brinkmann bat, Platz zu nehmen, brach diese in Tränen aus.
»Ich habe … es … in der Zeitung gelesen«, stammelte sie.
Barbara schwieg. Sie betrachtete das Gesicht der Frau, die unlängst 27 geworden war, um deren Mundwinkel sich aber bereits die Falten der ewig Unzufriedenen gebildet hatten. Es war auf Anhieb zu sehen, dass sie frustriert war.
»Was haben Sie gelesen, Frau Brinkmann?«, fragte Uplegger in seiner wärmsten Stimmlage.
»Das mit Andrea.« Sie schniefte.
»Stand sein Name in der Zeitung?«
»Nicht ganz. Andriejus M., so haben sie geschrieben. Produktionsleiter in Güstrow. Auf der Heimfahrt von der Arbeit. Das kann nur …« Ihr versagte die Stimme, und die Tränen verschmierten ihre Wimperntusche. Erst jetzt fiel Barbara auf, dass sie ein besonders gedehntes Mecklenburgisch sprach, das ein R am Wortende in ein langes Ä verwandelte, was den Verdacht erweckte, sie könne vons Dörp stammen. Barbara kam das bei einer Deutschlehrerin seltsam vor, von der sie ein akzentfreies Hochdeutsch erwartete, ohne sagen zu können, warum eigentlich: War ihr die Mundart zu bäurisch? Sie grub in ihrer Handtasche, aber Uplegger war schneller und zog eine Packung Papiertaschentücher aus seinem Jackett.
»Danke.« Claudia Brinkmann riss sie auf, nahm ein Tuch heraus und betupfte sich die Augen.
»Die Nachricht hat sie erschüttert?«, fragte Barbara, mehr im Ton einer Feststellung.
Sie nickte. »Wir waren fünf Jahre zusammen. Aber das wissen Sie, sonst wären Sie nicht hier.«
»Stimmt. Warum haben Sie sich getrennt?«
»Ja, warum?« Claudia betrachtete die Spuren von Tusche im Taschentuch. »Wir hatten uns auseinandergelebt.«
»Einfach so?«
»Lebt man sich nicht immer einfach so auseinander? Ich meine, schleichend?«
»Mag sein. Was war Andriejus für ein Mensch?«
»Mein Gott, was soll ich darauf antworten?« Die junge Lehrerin blickte Barbara hilfesuchend an. Barbara verzog nicht eine Miene. »Er war sehr lieb, sehr zärtlich. Und irgendwie … ein Kind. Ein großer Junge. Wollte immerzu gehätschelt und getröstet werden.«
»Er hatte also Trost nötig?«
»Kennen Sie die Mutter?«
»Ja.«
»Sie ist eine sehr starke Frau.
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