Mörder im Zug
Furchtbar zielstrebig und fordernd.«
»Kann eine starke und zielstrebige Frau ihren Sohn nicht trösten?«
»Wenn sie kein Herz hat?« Die Tränen rannen wieder stärker. Barbara schaute Uplegger an, der sich peinlich berührt zeigte. Sie selbst hatte nicht den Eindruck gewonnen, dass Lukrecija Medanauskas herzlos war.
»Warum brauchte Andriejus so viel Zuspruch?«
»In seiner Firma, dieser Kaviarfabrik, war er irgendwelchen dunklen Machenschaften auf der Spur. Es ging um Betrug und darum, dass manchmal keine Löhne gezahlt wurden … Er wollte das alles irgendwie ans Licht bringen und hat dafür gekämpft, aber er stand allein auf weiter Flur. Regelrecht besessen war er. Immer nur hieß es: die Firma, die Firma. Andrea, der verkannte Einzelkämpfer. Manchmal habe ich gedacht: Wenn ich jetzt tot umfalle, dann merkt er das gar nicht und hält noch meiner Leiche einen Vortrag über die Schlechtigkeit der Welt.«
Er hatte doch zu frieren begonnen und war auf Höhe der Ausflugsgaststätte Wilhelmshöhe umgekehrt. Den Wind im Rücken, war er rasch nach Warnemünde zurückgelangt, hatte in einer Bäckerei einen Kaffee getrunken, um die Zeit bis zur Öffnung der Läden zu überbrücken und dann in der Mühlenstraße endlich ein batteriebetriebenes Radio erwerben können. Der kleine Weltempfänger war genau das Richtige für seine Zwecke. Das Gerät passte mühelos in seine Manteltasche, sodass es niemand sehen konnte, und das war lebenswichtig.
Erst im Park an der Heinrich-Heine-Straße wagte er, den Empfänger in die Hand zu nehmen. Ein älteres Ehepaar war mit seinem Hund unterwegs, einem Beagle, und auf dem Parkplatz vor dem Institut für Ostseeforschung verließ ein Anzugträger seinen Wagen. Er fühlte, dass er beobachtet wurde: Jedes Haus, jedes Auto hatte tausend Augen. Unbeholfen suchte er Sichtschutz hinter einer ziemlich kahlen Hecke, dann stellte er den Sender ein. Fort von dem manisch wirkenden Moderator mit seinen allzeit fünf Minuten früheren Verkehrsnachrichten bis zu jenem atmosphärischen Rauschen, Fiepen und Knistern am Rand der Skala. Wann das Weltforum erstmals mit ihm in Verbindung getreten war, vermochte er nicht mehr zu sagen. Student war er damals gewesen, hatte gerade mit dem Studium begonnen. Es war also jedenfalls lange her.
Flüsternd sprach er in den Lautsprecher, wobei er sich ständig umblickte. Der Mann im Anzug war im Institut verschwunden, das Paar entfernte sich in Richtung Wachtlerstraße. Der Mann allerdings verhielt sich verdächtig. Er warf Stöckchen, die der Beagle apportierte – und schaute dabei zu ihm, unentwegt.
Das Weltforum hatte das Ziel, die Welt von allen Übeln zu befreien, von Krisen, Kriegen und Katastrophen, von politischen Intrigen, Machtspielen, Hunger und Elend, von Mord und Totschlag. Niemand durfte wissen, wer ihm angehörte, und er selbst wusste es auch nicht. Allein über die Ätherwellen nahm es Kontakt zu ihm auf, erteilte das Weltforum Aufträge und erhielt Berichte. Alle Entscheidungen fielen an unbekanntem Ort, und er war auserwählt, an der Rettung des Planeten mitzuwirken. Dabei blieben seine Aufgaben unscharf und daher schwer zu erledigen. Er wusste zwar, dass man von ihm unablässiges Handeln erwartete, aber niemals erfuhr er, was er eigentlich tun sollte.
Er berichtete dem Weltforum vom Mord in der S-Bahn. Die Information war in Sekundenschnelle ausgewertet. »Handle augenblicklich!«, lautete der Befehl.
Dann wurde der Empfang durch lautes Lachen gestört. Es kam leider oft vor, dass sich jemand in die Übertragung einmischte, um präzisere Anweisungen zu unterbinden. Das Weltforum hatte viele Feinde, die vom Übel der Welt profitierten. Jahrelang hatte die Staatssicherheit ihn gejagt, und er allein wusste, dass es sie noch gab. Andere Geheimdienste waren ihm ebenfalls auf den Fersen, auch die Mafia, auch Al-Qaida. Er musste ständig auf der Hut sein.
»Was soll ich tun?«, fragte er.
»Achte auf schwarze Autos«, lautete der Bescheid. Dann war, obwohl er nichts verstellt hatte, der hysterische Moderator wieder da. Er lachte. Er lachte ihn aus. Lachte, lachte, lachte …
Plötzlich trat Totenstille ein. Er zitterte. Und dann kam die Stimme, ein Dröhnen, das tausendfaches Echo hervorrief, wie in einem riesigen Kirchenraum, wie in einer Kathedrale des Bösen: »Du wirst sterben. Dein Sarg steht bereit.«
Der Moderator schrie. Er brüllte so laut, dass es vermutlich halb Warnemünde hören konnte. Er gab vor, den nächsten Titel
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