Mörder im Zug
Andriejus war sportlich. Er hat sich bekanntlich gewehrt. Außerdem …«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Wenn Sokolowski der Täter ist, hätte Blut auf seiner Uniform sein müssen. Vielleicht hat er die Bahnpolizei deshalb so spät verständigt, weil er sich vorher umziehen musste?«
»Hm.« Barbara betrachtete die Formblätter, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen. »Passt das zeitlich?«
»Ich habe es noch nicht geprüft.«
»Das kann Ann-Kathrin machen. Vielleicht ist doch was dran.«
»Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich.«
»Das sag ich doch immer!«
»Genau!« Uplegger bohrte einen Zeigefinger in die Luft und lächelte. »Sie zitieren Kant, ich zitiere Sie.«
Das Meer rauschte nicht, es donnerte an den Strand. Die hohen Wellen trugen Schaumkämme, rollten bis vor seine Füße, fraßen den feinen Sand. Bei diesem steifen Nordwest war das Wasser sehr hungrig. Wenn er es zuließ, würde es auch ihn verschlingen.
Vielleicht wäre dies sogar das Beste. Kapitulieren. Sich fallen lassen. Einfach hinein in die Flut.
Er schaute sich um. Weit und breit war keine Menschenseele. Ein paar Möwen stolzierten durch den Sand, zerrissen den Schlick mit ihren Schnäbeln, warfen mit Muschelschalen. Auch in der Luft waren sie, über dem Wasser, sie ließen sich vom Wind tragen, kreischten. Frei waren sie.
Er spürte die Kälte nicht, aber er sah sie. Das dunkle, aufgewühlte Meer sah kalt aus, der gefrorene Sand, selbst der Strandhafer. Der Schneehimmel sah kalt aus, die Luft, die man doch eigentlich gar nicht sehen konnte, der Horizont aus kaltem Glas.
Grieses Wetter. November. Zeit des Todes.
Er zitterte, obwohl er nicht fror. Er zitterte vor Angst. In der S-Bahn nach Warnemünde waren immer mehr Bruchstücke seiner Erinnerung zurückgekehrt. Er hatte dem jungen Mann helfen wollen, hatte sich über ihn gebeugt, wohl sogar eine Herzmassage versucht – daher das Blut an seiner Kleidung. Er hätte Hilfe holen sollen. Oder anrufen: Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst. Er hatte allerdings kein Handy mehr. Vor Monaten hatte er es weggeworfen. Aus einem Zugfenster. Mit dem Handy hatten sie ihn abgehört.
Lächerlich. Er ging weiter Richtung Stoltera. Auf das Handy waren sie gar nicht angewiesen. Der Arzt, der zu ihrer Organisation gehörte, hatte ihm einen Chip implantiert. Mitten ins Gehirn. Sie mussten ihn nicht mehr abhören, weil sie seine Gedanken lesen konnten.
Der Chip verursachte Kopfweh. Das wollten sie: Dass ihm der Kopf schmerzte. Um ihn in den Irrsinn zu treiben. Deshalb bekam er auch kein Tilidin. Von wegen Suchtpotential!
Die lauten Geräusche quälten ihn. Das Meer brüllte, die Möwen kreischten, der Sturm heulte.
Zwei Männer. Er war jetzt sicher. Zwischen Schwaan und Papendorf. Und er war geflohen. Er hatte Angst gehabt.
Versteht ihr das denn nicht? Angst! Todesangst. Immer und immer und immer Angst.
Manchmal wünschte er sich, ein anderer zu sein. Sich zu verwandeln, damit sie ihn nicht sehen konnten. Ein einfacher Kleiderwechsel genügte nicht. Er musste auch im Kopf ein anderer werden. Das würde sie verwirren: Wenn sie plötzlich fremde Gedanken lasen. Genauer: die Gedanken eines Fremden, denn fremde Gedanken platzierten sie in ihm ständig über den Chip.
Er brauchte dringend ein Radio, denn er brauchte unbedingt Kontakt.
Barbara hatte ihre Spesenabrechnung zum Chef getragen und die von Uplegger gleich mitgenommen, dann machte sie sich endlich ans Ausfüllen der Vorladungen. Ihr Kollege schaute sich nach wie vor Fotos von schreienden und Fäuste schüttelnden Halbwilden an, er orderte telefonisch Videoaufzeichnungen von Heimspielen und recherchierte auch irgendetwas im Internet. Plötzlich hob er den Kopf.
»Wir haben übrigens vergessen, Giehlow zu fragen, ob er jemanden auf dem Bahnhof Pölchow gesehen hat. Und von sich aus hat er nichts gesagt.«
»Stimmt!« Barbara kritzelte ihr Unleserlich auf das erste Dokument und griff nach dem Stempel mit der Aufschrift KHK’in , die den Vorgeladenen eine Nuss zu knacken gab. »Ich lad ihn mit vor. Ist ein Abwasch. Außerdem muss er sowieso kommen.« Sie knallte den Stempel aufs Tintenkissen und dann aufs Papier.
»Wie war es eigentlich bei Penelope?«
»Für die habe ich soeben eine Vorladung fertig gemacht. Vielleicht lasse ich sie hier von Hunden zerreißen. Fragen Sie mich nicht, wie ich darauf komme; es hat etwas mit der Persönlichkeit zu tun und dem Matriarchat.«
»Dann war der Besuch wohl nicht
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