Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
rückte den Geschworenen die hierbei zutage getretene Inkompetenz Prof. Stevensons ins Bewusstsein, erinnerte daran, dass der Leiche erst nach sechs Tagen die zur Untersuchung notwendigen Organe entnommen worden waren, so dass sich darin sehr wohl »Leichenalkaloide« gebildet haben konnten, die eine dem Aconitin gleichartige Farbreaktion vorgetäuscht hätten. Sei die Möglichkeit einer solchen Verwechslung jedoch nicht zweifelsfrei auszuschließen, dann müssten die Geschworenen nach dem Grundsatz urteilen: im Zweifel für den Angeklagten.
Damit hatte Williams sein Ziel erreicht. Er hatte die Geschworenen so verunsichert, dass sie sich im Streit der Meinungen kein eigenes Urteil mehr bilden konnten. Der Staatsanwalt versuchte in seinem Plädoyer zu retten, was noch zu retten war. Er warnte die Geschworenen, die wissenschaftliche Expertise von Prof. Stevenson zu missachten. Wenn sie das täten, könnte jedermann einen andern Menschen töten, er brauche dafür nur ein wenig bekanntes Gift zu wählen und wäre dann völlig sicher vor Strafe.
Die Geschworenen sprachen Lamson des Mordes schuldig - nicht aufgrund des toxikologischen Gutachtens, sondern der übrigen Indizien.
Lamson wurde zum Tode verurteilt. Vor seiner Hinrichtung gestand er den Mord.
Hätte sich der New Yorker Arzt Dr. Buchanan in seinem Triumph, den perfekten Mord begangen zu haben, nicht übermütig dieses Verbrechens gerühmt, er wäre niemals dafür zur Rechenschaft gezogen worden.
Der Fall Dr. Buchanan zeigt auf groteske Weise, wie die Entdeckung der sogenannten Leichenalkaloide damals selbst erfahrene Wissenschaftler verunsicherte oder in die Defensive trieb. Zugleich ist dieser Fall das Beispiel eines besonders raffinierten Mordes, den nur ein Arzt mit toxikologischen Kenntnissen vollbringen konnte.
Robert Buchanan hatte in Neu Schottland Medizin studiert und dort geheiratet. Er war 24 Jahre, als er mit seiner Frau nach New York übersiedelte und hier eine Praxis gründete.
Buchanan war ein intelligenter Mann und guter Arzt. Aber mit seinem haltlosen Charakter zerstörte er sich alle Zukunftschancen. Er war häufiger in Kneipen und Bordellen zu finden als in seiner Praxis. Bald drückte ihn eine riesige Schuldenlast. Die Praxis ging ein. Seine Frau verließ ihn.
Buchanan brauchte Geld.
Und er brauchte eine Frau, die Geld hatte. Und die auch
bereit war, den heruntergekommenen jungen Mann mit dem verlebten Gesicht und den leeren Taschen zu heiraten und ihm ihr Geld zu überlassen.
In den Soap-Stories von heute geschehen immer Wunder: Solche gescheiterten Existenzen Finden eine hübsche, eine einfühlsame, eine reiche junge Frau, die den Verlotterten auf den Weg der Tugend zurückführt. Die Wirklichkeit freilich sieht anders aus, und im Fall Buchanan gab es kein HappyEnd.
Zwar nahm sich eine Frau des Gescheiterten an. Sie war auch etwas wohlhabend, aber weder hübsch noch einfühlsam und schon gar nicht mehr jung. Es war die zwei Jahrzehnte ältere Bordellbesitzerin Annie Sutherland.
Buchanan kannte Annie durch seine regelmäßigen Bordellbesuche seit Jahren. Er machte ihr einen Heiratsantrag, und sie sagte Ja.
So schlossen die beiden also die Ehe, der gestrandete 30jährige Arzt und die verwelkte Hurenmutter. Er erhoffte sich Geld, sie erwartete als Frau Doktor bürgerliche Reputation.
Buchanans Rechnung ging auf. Annie verkaufte das Bordell und setzte ihn zum Alleinerben ihres Vermögens ein.
Nun, als der Doktor sein Ziel erreicht hatte, zeigte er sein wirkliches Gesicht. Wahrscheinlich hasste er seine vulgäre Frau. Er behandelte sie verächtlich, und sie rächte sich, indem sie ihn finanziell kurz hielt. Bald drohte sie ihm, ihr Testament zu ändern.
Da glaubte Buchanan, handeln zu müssen. Ob er schon vor der Heirat Annies Ermordung geplant oder sich erst jetzt dazu entschlossen hatte, ist nie geklärt worden. Nun also begann Buchanan, ernsthaft über den perfekten Mord nachzudenken.
Natürlich kam auch für ihn als Arzt nur ein Giftmord in Frage, mit einem pflanzlichen Gift, ein metallisches wäre zu leicht nachweisbar. Er beschaffte sich die notwendige Fachliteratur.
Im Kapitel über Morphium las er, dass eine Vergiftung mit diesem Opiumalkaloid rasch zu Bewusstlosigkeit führt. Diese geht ins Koma über, aus dem der Vergiftete nicht mehr erweckt werden kann. Die Pupillen sind bis auf die Größe eines Stecknadelkopfes verengt. Die Atmung wird immer langsamer und oberflächlicher, das Gesicht totenblass. Der
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