Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
Dann nahm er allen Mut zusammen, der dazu gehört, wenn man seinem ehemaligen, verehrten alten Lehrer eine unangenehme Frage stellen muss.
»Haben Sie, Herr Professor, den Impfstoff vom 28. Februar inzwischen untersucht?«
»Da war nichts zu untersuchen, Herr Altstaedt.«
»Wie darf ich das verstehen, Herr Professor?«
»Diese Emulsion gibt es nicht mehr, keinen Tropfen. Ich habe sie restlos vernichten lassen.«
Altstaedt verbarg seine Bestürzung und nickte, als billige er diese unbegreifliche Maßnahme. »Und später? Ist später noch einmal Impfstoff hergestellt worden?«
»Am 4. März. Aber von diesem Stamm ist kein Kind erkrankt.«
Altstaedt glaubte jetzt klarzusehen. Die eine tödliche Erkrankung des Säuglings Schwarz konnte man vielleicht noch als seltene Ausnahme betrachten. Die aus Paris bezogene Kultur war aus unerklärlichen Gründen virulent geworden. Aber nun 8 weitere Erkrankungen! Und die Reste der Emulsion hat Deycke vernichtet! Altstaedt musste befürchten, dass hier in Deyckes Lübecker Labor irgend etwas passiert sein musste, ein Fehler, dem Deycke nicht nachgehen wollte.
Trotz dieser Ahnungen unternahm Altstaedt wiederum nichts. Er beruhigte sich mit der Tatsache, dass die am 4. März hergestellte Emulsion keine Erkrankungen hervorgerufen hatte.
Am 5. Mai erfuhr Altstaedt jedoch, dass nun auch mehrere Säuglinge, die mit der am 4. März hergestellten Emulsion gefüttert worden waren, Tuberkulosesymptome zeigten.
Erst jetzt informierte Altstaedt den Innensenator, dem das Gesundheitsamt unterstand, von den Vorfällen. Der Innensenator war zunächst unschlüssig, was er tun sollte. Er berief mehrere Beratungen mit den zuständigen Fachleuten ein. Darüber verging eine Woche. Dann endlich entschloss sich der Innensenator, das Reichsgesundheitsamt und die Öffentlichkeit
von der bedrohlichen Situation zu unterrichten.
An diesem Tage, dem 13. Mai, waren schon 23 Kinder an Tuberkulose erkrankt und 8 von ihnen gestorben.
Am 14. Mai berichtete die VOSSISCHE ZEITUNG über das Lübecker Säuglingssterben. Der Reichstag musste sich mit den Ereignissen beschäftigen. Innenminister Wirth versprach, die Angelegenheit sofort untersuchen zu lassen. Zugleich warnte er alle Landesregierungen, Impfungen mit BCG vorzunehmen.
Am 17. Mai waren bereits 50 Kinder erkrankt und 12 tot. Am 24. Mai gab das Gesundheitsamt den Namen des 19. verstorbenen Kindes bekannt. Nun folgte jeden Tag eine amtliche Verlautbarung über die steigende Zahl der Erkrankten und Toten.
Panik ergriff die Lübecker Eltern, die ihre Kinder hatten impfen lassen. Spontan bildeten sich Elternausschüsse, die eine öffentliche Untersuchung forderten. Unter dem Druck dieser Aktionen und der Erregung in ganz Deutschland musste die Staatsanwaltschaft schließlich handeln. Aber sie wusste nicht, wen sie anklagen sollte. Die Kommission des Reichsgesundheitsamtes, die inzwischen in Lübeck ihre Untersuchungen aufgenommen hatte, stand vor einem Rätsel. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen »Unbekannt« wegen fahrlässiger Tötung.
In Wirklichkeit jedoch wusste Oberstaatsanwalt Dr. Lienau bereits ziemlich genau, wer sich hinter dem großen Unbekannten verbarg: zwei Männer, die schuld an der Katastrophe waren: Prof. Deycke, der den BCG-Impfstoff hergestellt, oder Prof. Calmette, der ihn vor Jahren entwickelt hatte. Es gab nur diese Alternative, soviel stand für Lienau fest. Entweder war Calmettes Impfstoff BCG nicht so unschädlich, wie behauptet wurde. Dann wäre in letzter Instanz der französische Bakteriologe Calmette schuldig am Massensterben der Kinder. Oder der Originalimpfstoff Calmettes war tatsächlich unschädlich, dann musste Prof. Deycke bei der hauseigenen Herstellung des BCG ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen sein.
Calmette oder Deycke - diese Alternative war nicht nur eine juristische, sie wurde auch sofort eine politische Alternative. Calmette war Franzose. Nationalisten und Chauvinisten sahen hier eine günstige Gelegenheit, den »Erbfeind Frankreich« international bloßzustellen. Die reaktionäre Presse erging sich in Schmähungen gegen Calmette und nannte sein Verfahren kurzweg ein Mordinstrument an deutschen Kindern.
Dabei war das Calmette-Verfahren bereits in vielen Ländern der Welt in Gebrauch. Kein einziger Fall war bekannt geworden, dass ein Säugling durch BCG erkrankt oder sogar gestorben wäre.
In Belgien, Bulgarien, Spanien, in den USA, in Italien, Schweden und in der Sowjetunion waren inzwischen
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