Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
CalmetteImpfung lieferten sich nicht nur auf Kongressen und in den Fachzeitschriften, sondern auch im Lübecker Gerichtssaal erbitterte Gefechte. Es ging dabei nicht nur um den Impfstoff BCG, sondern um das Leben von Millionen Kindern in aller Welt, für die Calmette seinen Impfstoff entwickelt hatte.
Die juristische Entscheidung in diesem Prozess beruhte auf den Gutachten medizinischer Kapazitäten. Sie sahen sich dabei, wie einer von ihnen sagte, in den schwersten Konflikt ihrer Laufbahn gestellt, in den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung.
Die Neigung führte sie in die Versuchung, die am Massensterben schuldigen Ärztekollegen zu entlasten. Ihre ärztliche Pflicht aber zwang sie, die Schuldigen auch für schuldig zu befinden.
Im Dezember 1929 erhielten im Lübecker Säuglingsheim drei Neugeborene, die Kinder Griese, Schulz und Golchert, eine im Lübecker Krankenhaus hergestellte Emulsion, die die Kinder gegen Tuberkulose immun machen sollte. Die Emulsion wurde mit der Nahrung vermischt und, wie man sagte, mit ihr zusammen »verfüttert«.
Diese Verfütterung eines Tuberkulose-Impfstoffs war ein Vorversuch. In Kürze sollten Säuglinge massenhaft auf diese Weise geimpft werden. Einige Wochen später erkrankte das Kind Griese an Lymphdrüsentuberkulose. Ein Klinikarzt kam auf den Gedanken, die Erkrankung könnte mit der Schutzimpfung zusammenhängen. Er setzte sich deshalb mit Prof. Deycke, dem Chefarzt des Allgemeinen Krankenhauses Lübeck, in Verbindung, denn Prof. Deycke hatte im Labor des Krankenhauses den Impfstoff hergestellt.
Deycke ließ sich die Krankheitssymptome schildern und meinte schließlich, die Lymphdrüsentuberkulose habe nichts mit der Impfung zu tun, es sei eine angeborene, schon im Mutterleib erworbene Tb. Der behandelnde Arzt gab sich mit der Diagnose des Professors zufrieden, obwohl er wusste, wie selten diese kongeniale Tuberkulose ist. Er unterließ es auch nachzuforschen, ob überhaupt familiäre Bedingungen für eine angeborene Tuberkulose vorhanden waren.
Anfang März wurde an eine größere Anzahl Säuglinge der in Lübeck hergestellte BCG-Impfstoff verfüttert.
Der Säugling Griese war inzwischen verstorben.
Am 26. April starb ein mit dem BCG geimpfter Säugling namens Schwarz ebenfalls an Lymphdrüsentuberkulose. Die Leiche wurde seziert. Die Obduzenten führten die tödliche Erkrankung auf die BCG-Verfütterung zurück und teilten ihren Befund Prof. Deycke mit.
Prof. Deycke rief den Physiker Obermedizinalrat Dr. Altstaedt an. Altstaedt war Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes. Er kannte sich mit Tuberkulosefällen aus, denn seit fast einem Jahrzehnt arbeitete er als ehrenamtlicher Vorsitzender der Tuberkulosefürsorge.
Altstaedt nahm Deyckes Mitteilung sehr betroffen auf. Als Leiter des Gesundheitsamtes hatte er die Einführung der BCGImpfung vorgeschlagen.
»Ein Todesfall? Wie ist das möglich, Herr Professor? Sie waren doch ebenso wie ich von der absoluten Unschädlichkeit des BCG überzeugt!«
»Das können wir auch jetzt noch sein, lieber Altstaedt. Es ist ein Einzelfall, einer jener seltenen Fälle, wobei die abgeschwächten Tuberkelbazillen unerwartet wieder aktiv werden.«
»Aber dann müssen wir doch etwas unternehmen. Schließlich kann es zu weiteren Erkrankungen kommen!«
»Ich habe bereits die Verfütterung einstellen lassen. Mehr lässt sich im Augenblick nicht tun.«
Mit dieser beruhigenden Mitteilung begnügte sich Dr. Altstaedt. Er unternahm nichts, um die noch in andern Anstalten vorhandenen Emulsionen zurückzuziehen. So erhielten in den nächsten Tagen weitere 19 Säuglinge die tödliche Emulsion. Dr. Altstaedt forderte auch Prof. Deycke nicht auf, die Umstände zu erforschen, die zu dieser ganz ungewöhnlichen Virulenz der abgeschwächten TuberkelBazillen geführt hatten.
Zwei Tage später bat Prof. Deycke Dr. Altstaedt, ihn im Krankenhaus aufzusuchen. Dort teilte Deycke Altstaedt mit, inzwischen seien 8 weitere Säuglinge an Tuberkulose erkrankt. Vier seien bereits verstorben. Altstaedts Erschrecken wäre noch größer gewesen, hätte er gewusst, dass ihm Prof. Klotz, der Direktor der Kinderklinik, der ebenfalls an dem Gespräch teilnahm, einfach verschwieg, dass auch in seiner Klinik Kinder an Tuberkulose erkrankt waren.
Altstaedt fragte, ob sich noch überprüfen lasse, mit welchem Stamm die erkrankten Kinder gefüttert worden waren. Deycke erwiderte, die betreffende Emulsion sei am 28. Februar hergestellt worden. Altstaedt schwieg lange.
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