Mörderische Ärzte: der hippokratische Verrat
über eine halbe Million Kinder mit BCG geimpft worden. 1928 hatte die Hygienesektion des Völkerbundes, der namhafte Wissenschaftler aus aller Welt angehörten, Calmettes Verfahren geprüft und war einstimmig zu dem Urteil gelangt, dass es ein unschädlicher Impfstoff sei und keine fortschreitende Tuberkulose zur Folge habe.
Es gab allerdings auch Bakteriologen, die diese Meinung nicht teilten, so Dr. v. Kirchner, Vorstand der Deutschen Forschungsanstalt für Tuberkulose. Kirchner hatte sich mit den Meerschweinchenversuchen, mit denen Calmette sein Verfahren erprobt hatte, beschäftigt. Er bezweifelte, dass Tierversuche ausreichten, um die Unschädlichkeit des BCG für Menschen nachzuweisen. Er hatte seine Bedenken in dem Satz zusammengefasst: »Säuglinge sind empfindlicher als Meerschweinchen.« Kirchner erinnerte an Versuche, die eine Virulenzsteigerung beim BCG-Impfstoff ergeben hätten. Trotzdem erklärte Kirchner, der Original-Calmette-Impfstoff könne keinesfalls das Massensterben von Lübeck bewirkt
haben.
Calmettes Verfahren beruhte auf der klassischen Erkenntnis Robert Kochs, dass sich nach dem Abklingen einer Infektion keine zweite Infektion bildet, weil die erste Infektion den Organismus angeregt hat, Abwehrstoffe zu erzeugen. Diese Erkenntnis bildete die Grundlage der Impfungen gegen Infektionserreger. Auch Calmette hatte sein Verfahren darauf aufgebaut. Er schwächte bestimmte Stämme der Kindertuberkeln so weit ab, dass sie im menschlichen Organismus nur eine leichte, rasch abklingende Infektion hervorriefen, die gegen eine spätere Tuberkuloseinfektion immun machen sollte. Bei seinem Verfahren verwendete er die Erkenntnis von Behring, dass bei Neugeborenen die Darmschleimhaut durchlässig ist. Wird der Impfstoff zusammen mit der Nahrung verfüttert, gelangt er durch die Darmschleimhaut ins Blut und erzeugt dort die Abwehrstoffe. Unklar aber war, wie lange diese Resistenz gegen Tuberkulose anhielt. Einige Forscher meinten, nicht länger als ein Jahr. Das stellte den Wert dieser Impfung in Frage. Einig aber waren sich die meisten Bakteriologen und Kliniker, dass BCG, wenn auch nicht auf Dauer wirksam, dennoch völlig unschädlich sei.
Das war der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis um
1930. Überzeugt von der Unschädlichkeit des BCG, hatte der Leiter des Lübecker Gesundheitsamtes, Dr. Altstaedt, sich entschlossen, in der Hansestadt als erstem Land in Deutschland die BCG-Impfung einzuführen. Ein persönlicher Freund Calmettes hatte ihn dazu ermuntert. Altstaedt war sich nicht bewusst, welches Risiko er damit auf sich nahm. Denn kurz zuvor hatte das Reichsgesundheitsamt davor gewarnt, das Calmette-Verfahren ohne entsprechende wissenschaftlichtechnische Voraussetzungen zu übernehmen. Altstaedt glaubte, diese Warnung sei durch die Empfehlung der Hygienesektion des Völkerbundes überholt. Er wollte mit der CalmetteImpfung eine der schlimmsten Volksseuchen, die Tuberkulose,
in seinem Amtsbereich eindämmen.
Die Tuberkulosestatistik für Deutschland nannte im Jahre
1928 fast 56 000 Todesfälle durch Tuberkulose. Mehr als eine Million Menschen befanden sich in Tuberkulosefürsorge. Als Leiter der Lübecker Tuberkulosefürsorge begegnete Dr. Altstaedt täglich den Kranken und Dahinsterbenden.
Nachdem sich Altstaedt mit dem Lübecker Gesundheitsamt, dem Ärzteverein und dem Innensenator beraten hatte, hatte er den Chefarzt des Allgemeinen Krankenhauses, Prof. Deycke, gefragt, ob er bereit sei, mit dem Calmette-Verfahren zu arbeiten. Deycke hatte sein Einverständnis gegeben, vorausgesetzt, er dürfe aus der von Paris bezogenen Originalkultur den Impfstoff in seinem eigenen Labor herstellen.
Altstaedt hatte also nicht darauf gedrungen, für die Impfung nur Original-BCG aus Paris zu beziehen. Er hatte Deycke erlaubt, die Tochterkulturen in Lübeck zu ziehen. Altstaedt glaubte Deyckes Fähigkeiten vertrauen zu können, denn Deycke hatte lange Erfahrungen als Bakteriologe und beschäftigte sich selbst mit der Entwicklung eines Verfahrens zur Bekämpfung der Tuberkulose.
Das also stand am Beginn der tragischen Ereignisse in Lübeck im Herbst 1929: Ebenso von humanitärem Interesse wie vom Ehrgeiz getrieben, als erster in Deutschland die BCGImpfung gegen Tuberkulose einzuführen, legte Dr. Altstaedt die Verwirklichung dieses Plans in die Hände von Prof. Deycke, beachtete jedoch nicht die Hinweise des Reichsgesundheitsamtes, die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen und die nötige
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