Moerderische Kuesse
bleibt uns der heutige Tag. Disneyland ist gestrichen. Sollen wir umdrehen, in unseren jeweiligen Zimmern verschwinden und bis zum Abend Däumchen drehen? Was könnten wir sonst noch unternehmen? Nachdem du enttarnt worden bist, würde ich davon abraten, durch Paris zu schlendern und shoppen zu gehen.«
Nein, sie wollte nicht in ihr kleines Apartment zurück. Es hatte nicht einmal den Vorzug, alt und gemütlich zu sein; es war nur praktisch und sicher. »Lass uns einfach weiterfahren.
Und wenn wir Hunger bekommen, halten wir irgendwo an und essen.«
Sie fuhren weiter in Richtung Osten, und als sie Paris und den Großstadtverkehr endgültig hinter sich gelassen hatten, bog er auf eine Landstraße ein und ließ den Pferdestärken freien Lauf. Lily war schon ewig nicht mehr nur zum Spaß über Land gebraust, und sie ließ sich, fest angeschnallt, in ihren Sitz zurücksinken, während ihr Puls in leichter Anspannung beschleunigte. Sie fühlte sich wieder wie in ihrer Teenagerzeit, als sie sich zu siebt oder acht in ein Auto gequetscht hatten und den Highway hinuntergejagt waren. Eigentlich war es ein Wunder, dass sie alle lebend durch die Highschool gekommen waren.
»Wie bist du eigentlich in dieses Geschäft gekommen?«, fragte er.
Verdutzt sah sie ihn an. »Du fährst viel zu schnell, um zu quatschen. Schau auf die Straße.«
Grinsend nahm er den Fuß vom Gaspedal, bis sich die Nadel bei hundert Stundenkilometern einpendelte. »Ich kann auch beim Gehen Kaugummi kauen, ohne dass ich über meine Füße stolpere«, protestierte er gutmütig.
»Was beides nicht viel Hirn erfordert. Auto fahren und Reden sind was anderes.«
Er wurde nachdenklich. »Für jemanden, der in seinem Beruf so viele Risiken eingehen muss, bist du nicht besonders risikofreudig, oder?«
Sie blickte auf die vorbeiziehende Landschaft. »Im Grunde meines Herzens bin ich überhaupt nicht risikofreudig. Ich plane meine Einsätze gründlich und gehe nie ein unnötiges Risiko ein.«
»Und wer hat beinah den vergifteten Wein getrunken und dabei riskiert, eine tödliche Dosis zu erwischen? Wer wird überall in Paris gesucht und bleibt doch dort wohnen, weil sie auf einem persönlichen Rachefeldzug ist?«
»Das sind außergewöhnliche Umstände.« Sie erwähnte nicht, dass sie ein unberechenbares Risiko einging, indem sie ihm vertraute, aber er war klug genug, um das selbst zu erkennen.
»Waren es auch außergewöhnliche Umstände, die dich dazu gebracht haben, Menschen zu töten?«
Sie schwieg ein paar Sekunden. »Ich sehe mich nicht als Mörderin«, antwortete sie halblaut. »Ich habe noch nie einen Unschuldigen verletzt. Ich habe nur offiziell genehmigte Einsätze durchgeführt, die mir von meinem Land aufgetragen wurden, und ich glaube nicht, dass die Entscheidung je leichtfertig gefällt wurde. Obwohl ich das strikt abgestritten hätte, als ich jung war, weiß ich inzwischen, dass es Menschen gibt, die zu böse sind, als dass sie es verdient hätten zu leben.
Hitler war kein einmaliges Phänomen, verstehst du? Sieh dir Stalin und Pol Pot an, Idi Amin, Baby Doc oder bin Laden.
Würdest du etwa behaupten, die Welt ist oder wäre ohne sie nicht besser dran?«
»Und ohne unzählige andere Westentaschendiktatoren, Drogenbosse, kriminelle Perverse und Pädophile. Ich weiß. Ich sehe das genauso. Aber hattest du diese Einstellung auch schon, als du deinen ersten Einsatz angetreten hast?«
»Nein.
Achtzehnjährige
sind
meist
keine
großen
Philosophen.«
»Achtzehn. O Mann, das nenne ich jung.«
»Ich weiß. Wahrscheinlich wurde ich genau deshalb ausgewählt. Ich sah aus wie ein unschuldiges Gör.« Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Mit frischem, offenem Gesicht und vollkommen unbefleckt, ein richtiges kleines Landei, obwohl ich mir damals ungeheuer cool und abgeklärt vorkam. Ich fühlte mich sogar geschmeichelt, dass man mich ausgesucht hatte.«
Er schüttelte den Kopf über diese naive Einstellung. Als sie nicht weitersprach, drängte er: »Jetzt erzähl schon.«
»Ich war ihnen aufgefallen, weil ich in einen Jagdverein eingetreten war. Der Junge, in den ich damals über beide Ohren verknallt war, war ein begeisterter Jäger, und ich wollte ihn beeindrucken, indem ich über die verschiedenen Jagdwaffen schwadronierte, über Kaliber, Reichweite und so weiter. Aber dann stellte sich heraus, dass ich eine verflucht gute Schützin war; die Pistole fühlte sich in meiner Hand ganz natürlich an. Nach kürzester Zeit war ich quasi
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