Moerderische Kuesse
abwies. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er schon jemals geschmollt hatte. Er würde einfach achselzuckend nach einer neuen Zerstreuung suchen.
Seit Monaten hatte sie unter ständigem Stress gestanden, doch erst jetzt, da sie sich entspannen konnte, begriff sie, welchen Preis diese Anspannung gefordert hatte. Sie wollte heute nicht mehr nachdenken müssen und auch keine weiteren schmerzvollen Erinnerungen wachrufen. Sie wollte einfach genießen.
Als sie zu ihrem Wagen zurückkamen, stand die Sonne schon tief am Himmel, und die frische Herbstluft war kalt geworden. Sie wollte die Beifahrertür öffnen, aber er fing ihre Hand ab, zog sie behutsam zurück, bis Lily sich umdrehte, und hatte im nächsten Moment ihr Gesicht mit seinen warmen Fingern umfasst, die ihr Kinn anhoben, bis er seinen Mund auf ihren senken konnte.
Sie wehrte sich nicht, sondern ergriff seine Handgelenke und hielt ihn fest, während er sie festhielt. Sein Mund war überraschend weich, der Kuss eher zärtlich als fordernd. Er schmeckte nach Schokolade.
Sie spürte, dass er mit diesem Kuss alles erreicht hatte, was er erreichen wollte, dass er keine weiteren Pläne hatte – fürs Erste jedenfalls. Sie konnte seinen Kuss erwidern, ohne dass er versuchen würde, ihr die Kleider vom Leib zu reißen oder sie gegen das Auto zu pressen. Darum beugte sie sich ein wenig vor, bis sie seine Körperwärme spürte und seine Nähe genießen konnte. Und dann neckte sie ihn ihrerseits mit der Zunge, so als wollte sie um mehr betteln. Er gab nach, nicht energisch, sondern ebenfalls beinahe ironisch, und dann gaben sich beide ganz dem neuen Geschmack, dem neuen Gefühl hin und spürten intensiv, wie perfekt sich ihre Münder zusammenfügten. Schließlich gab er ihre Lippen frei und strich mit der Daumenkuppe über ihren Mund, um gleich darauf die Autotür aufzuziehen, damit sie einsteigen konnte.
»Und wohin jetzt?«, fragte er, als er neben ihr saß. »Zurück nach Paris?«
»Ja«, bestätigte sie mit unüberhörbarem Bedauern. Der Tag war wie ein Traum gewesen, aber er neigte sich dem Ende zu.
Immerhin war sie zu einem wichtigen Entschluss gekommen: Swain konnte unmöglich von der CIA geschickt worden sein, denn sonst wäre sie inzwischen nicht mehr am Leben. Es war immer wieder ein gutes Zeichen, wenn der Typ nach einem Rendezvous nicht versuchte, dich umzulegen.
20
Am Spätnachmittag wurde Georges Blanc erneut von Damone Nervi angerufen. Er wusste, wer am Telefon war, weil sich sein Magen gleich beim ersten Klingeln in einer düsteren Vorahnung zusammenkrampfte. Da er im Auto saß, bestand keine Gefahr, dass er belauscht wurde, was ein wahrer Segen war – der einzige, den er in dieser Situation entdecken konnte.
Er fuhr an den Straßenrand und drückte die Sprechtaste.
Damone klang vollkommen neutral. »Ich bin vielleicht weniger aufbrausend als mein Bruder, aber ich lasse mich trotzdem nicht zum Narren halten. Haben Sie die gewünschten Informationen?«
»Ja, aber –« Blanc zögerte und wagte dann den Sprung ins kalte Wasser. »Ich möchte Ihnen raten und hoffe, dass Sie diese Nummer nicht verwenden.«
Zu Blancs großer Erleichterung klang Damone eher neugierig als verärgert. Er atmete tief durch. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, wie Sie an diese Nummer kommen können – indem jemand von der CIA sie weitergegeben hat. Der Mann, den Sie anrufen möchten, arbeitet für die CIA. Meinen Sie nicht, dass er sich fragen wird, woher Sie seine Nummer haben? Glauben Sie nicht, dass er zwei und zwei zusammenzählen wird? Folglich müssen Sie abwägen, ob er seinem Arbeitgeber gegenüber loyal handeln und den Kontakt weitermelden wird und ob man daraufhin Erkundungen einholen wird. Falls Sie diese Nummer verwenden, Monsieur, könnten Sie damit meinen Verbindungsmann und mich als Informanten verlieren.«
»Ich verstehe.« Im Hörer blieb es kurz still, während Damone die verschiedenen Konsequenzen überdachte. Nach ein paar Sekunden sagte er: »Rodrigo ist zu ungeduldig; ich halte es für besser, wenn er nichts davon erfährt. Manchmal verleitet ihn sein Widerwille gegen jede Untätigkeit zu überstürzten Reaktionen. Ich werde ihm erzählen, dass die betreffende Person in Frankreich ein Handy gemietet hat, aber noch mit niemandem Verbindung aufgenommen hat.«
»Vielen Dank, Monsieur. Danke.« Blanc schloss erleichtert die Augen.
»Aber«, fuhr Damone fort, »ich glaube, dass Sie mir einen
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