Moerderische Kuesse
keine Rückschlüsse darauf zu, wo sie im Moment steckte. In zwei Stunden konnte sie von Calais angefahren kommen. »Ich warte.
Sag mir, was du haben willst, dann gebe ich zwanzig vor acht die Bestellung auf.«
Sie wollte lediglich ein Croissant mit Kaffee, weshalb er im Geist notierte, ihre Bestellung um ein paar Proteine zu ergänzen. Gerade als sie auflegen wollte, sagte er: »Ach übrigens –«
Sie stutzte und fragte: »Ja?«
»Nur falls es dich interessiert: Ich schlafe nackt.«
Lily klappte ihr Handy zu, sah es ungläubig an und ließ sich lachend ins Kissen zurückfallen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gnadenlos aufgezogen und angeflirtet worden war und ob das überhaupt je passiert war.
Es war ein gutes Gefühl; genauso gut, wie zu lachen. Sie lebte also immer noch. Sie spürte sogar ein paar leichte Gewissensbisse, weil sie lachte, denn Zia würde nie wieder lachen.
Der Gedanke ernüchterte sie schlagartig, und der vertraute Schmerz presste ihr das Herz zusammen. Ganz weggehen würde der Schmerz wohl nie, dachte sie, aber vielleicht würde sie ihn im Lauf der Zeit hin und wieder für ein paar kurze Momente vergessen können. Heute würde sie genau das versuchen.
Sie stand auf, streckte sich und machte dann die Übungen, die sie jeden Tag absolviert hatte, um wieder zu Kräften zu kommen. Sie merkte, wie sie sich allmählich erholte, jeden Tag hielt sie ein bisschen länger durch. Nach dreißig Minuten war sie zwar schweißnass, aber nicht außer Atem; die brave Pumpe hielt, ohne zu mucken, durch. Sie stellte sich unter die Dusche, ohne davor irgendetwas ausziehen zu müssen, denn sie schlief nackt. Sie hatte es für klüger gehalten, Swain anzulügen, und obendrein hatte es Spaß gemacht.
Spaß. Da war das Wort wieder. Irgendwie tauchte es in Verbindung mit ihm verdächtig oft auf.
Bis vorhin hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, ob er nackt schlief, aber jetzt lieferte ihre Fantasie ungewollt reihenweise Bilder, wie er mit stoppligem Kinn aufwachte und sich räkelte. Seine Haut duftete warm und würzig, und seine Morgenerektion ragte steil auf, um Aufmerksamkeit heischend
– Einen Moment meinte sie, seinen warmen Männerduft in der Nase zu haben, und sie war kurz verwirrt, woher sie so genau wusste, wie er roch. Dann fiel ihr wieder ein, wie sie sich an seiner Schulter und in seinen Armen ausgeweint hatte. Dabei musste sie unbewusst seinen Geruch registriert haben, und offenbar hatte ihr Gehirn die Erinnerung gespeichert, um sie jetzt wieder hervorzuholen.
Sie konnte selbst nicht glauben, dass sie sich einverstanden erklärt hatte, den ganzen Tag mit ihm zu verbringen – und noch dazu in Disneyland. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie jemals dorthin zurückkehren würde. Im letzten Sommer hatte sich Zia geweigert, noch einmal ins Disneyland zu fahren; sie sei zu alt für diesen Babykram, hatte sie mit jener Todesverachtung verkündet, die nur eine Dreizehnjährige aufbringen konnte, und dabei hoheitsvoll ignoriert, dass die meisten Besucher dort deutlich älter waren als sie.
Außerdem waren dort immer viele Amerikaner, was Lily noch jedes Mal überrascht hatte, weil sie angenommen hatte, dass Amerikaner, die in einen Disney‐Park gehen wollten, einen in den Vereinigten Staaten besuchten, der mit Sicherheit näher lag als Paris. Aber dadurch würden sie und Swain nicht auffallen; sie wären einfach noch zwei Amerikaner.
Sie föhnte ihr Haar und ertappte sich wenig später dabei, wie sie ihre Schminksachen nach den richtigen Utensilien durchforstete. Sie stylte sich für ihn auf, stellte sie halb amüsiert, halb fassungslos fest – und es machte ihr Spaß.
Natürlich hatte sie sich für ihre Treffen mit Salvatore ebenfalls aufgetakelt, aber das war eher so gewesen, als würde sie eine Theatermaske auflegen. Diesmal kam es ihr vor wie ein echtes Rendezvous, und sie war aufgeregt wie das letzte Mal in der Highschool.
Sie hatte glatte Haut, aber sie hatte auch nie gern in der Sonne gelegen. Eine Grundierung brauchte sie deshalb nicht, aber sie brauchte sehr wohl Mascara, wenn man überhaupt etwas von ihren Wimpern erkennen sollte. Sie hatte zwar lange, schöne Wimpern, aber ohne Mascara waren sie blond und damit praktisch unsichtbar. Erst zog sie die Lider mit einem ganz dünnen Liner nach und trug etwas Lidschatten auf, dann massierte sie einen winzigen Tupfer eines rosenfarbenen Rouges in ihre Wangen und noch etwas davon auf ihre
Weitere Kostenlose Bücher