Moerderische Kuesse
weil ich nicht miterlebt habe, wie meine Kinder größer wurden. Diese Jahre sind unwiederbringlich verloren. Gott sei Dank war Amy ihnen eine gute Mutter. Sie haben sich prächtig entwickelt, trotz ihres nutzlosen Vaters.«
Er zückte sein Portemonnaie und zog zwei kleine Fotos heraus, die er vor ihr auf den Tisch legte. Sie zeigten zwei Jugendliche bei ihrer Highschool‐Abschlussfeier, einen Jungen und ein Mädchen, die beide dem Mann ihr gegenüber verblüffend ähnlich sahen. »Meine Tochter Chrissy und mein Sohn Sam.«
»Sie sehen gut aus.«
»Danke«, erwiderte er grinsend. Er wusste ganz genau, wie ähnlich sie ihm sahen. Im nächsten Moment hatte er die Fotos wieder an sich genommen, betrachtete sie kurz und steckte sie in sein Portemonnaie zurück. »Als Chrissy geboren wurde, war ich gerade mal neunzehn. Ich war entschieden zu jung und zu dumm zum Heiraten und erst recht zum Kinderkriegen, aber wer jung und dumm ist, hört natürlich nicht auf Ältere, die es möglicherweise besser wissen. Und wenn ich ehrlich bin, würde ich alles wieder tun, weil ich mir nicht vorstellen könnte, keine Kinder zu haben.«
»Steht ihr euch nahe?«
»Ich werde ihnen wohl nie so nahe sein wie ihre Mutter, denn die war für beide eindeutig wichtiger als ich. Sie war da und ich nicht. Sie mögen mich, sie lieben mich vielleicht sogar, immerhin bin ich ihr Dad, aber sie kennen mich längst nicht so gut wie Amy. Ich war ein lausiger Ehemann und Vater«, bekannte er freimütig. »Nicht dass ich sie geprügelt oder getrunken hätte oder so, aber ich war einfach nie da. Wenn ich mir überhaupt was zugute halten kann, dann dass ich sie immer unterstützt habe.«
»Das ist mehr, als viele Männer von sich behaupten können.«
Er gab halblaut seine Meinung über diese Männer zum Besten, eine längere Tirade, die mit »dämlich« begann und
»Arschlöcher«
endete,
gewürzt
mit
diversen
wenig
schmeichelhaften Ausdrücken.
Es rührte Lily, dass er seine Vergangenheit nicht schönzureden versuchte. Er hatte Fehler gemacht und war inzwischen reif genug, um das zu erkennen und zu bereuen.
Im Lauf der Jahre hatte er begriffen, wie vieles ihm im Leben seiner Kinder entgangen war, und er war seiner Exfrau dankbar, weil sie den Schaden, den er durch seine Abwesenheit angerichtet hatte, so weit wie möglich begrenzt hatte.
»Und
hast
du
inzwischen
vor,
dich
irgendwo
niederzulassen, in die Heimat zurückzukehren und in der Nähe deiner Kinder zu leben? Hast du deshalb Südamerika verlassen?«
»Nein, ich bin weg, weil ich bis zum Arsch im Krokodilsumpf stand und die Viecher verdammt hungrig waren.« Er grinste. »Ich hab nichts gegen ein bisschen Spannung im Leben, aber manchmal sollte man lieber auf einen Baum klettern und sich einen Überblick verschaffen.«
»Und was tust du genau? Beruflich, meine ich.«
»Ich bin so was wie ein Mann für alle Fälle. Wenn jemand will, dass irgendwas passiert, kann er mich anrufen, und es passiert.«
Diese Erklärung ließ eine Menge Raum zur Interpretation, fand sie, aber sie ahnte, dass er nicht deutlicher werden wollte.
Es war ihr ganz angenehm, nicht über jedes Detail Bescheid zu wissen. Sie wusste, dass er seine Kinder liebte, dass er zwielichtige Dinge tat und sich dennoch sein Gewissen bewahrt hatte, dass er eine Schwäche für schnelle Autos hatte und dass er sie zum Lachen bringen konnte. Und er wollte ihr helfen. Fürs Erste reichte ihr das.
Nach dem Mittagessen spazierten sie ein wenig durch die Straßen. Er entdeckte eine kleine Chocolaterie und entwickelte auf der Stelle einen Heißhunger auf Schokolade, obwohl sie gerade vom Essen aufgestanden waren. Und so kaufte er ein Dutzend verschiedene Pralinen, die er abwechselnd ihr und sich selbst in den Mund steckte, bis der letzte Krümel verschwunden war. Irgendwie bekam er unterwegs ihre Hand zu fassen und hielt sie fortan in seiner.
Auf gewisse Weise kam ihr der Tag wie von der Wirklichkeit losgelöst vor, so als schwebten sie in einer riesigen Seifenblase. Statt weiter an ihrem Rachefeldzug gegen Rodrigo zu feilen, bummelte sie durch eine Kleinstadt und studierte die Schaufenster. Sie fühlte sich vollkommen unbeschwert, vollkommen gelöst; ein gut aussehender Mann hielt ihre Hand und plante wahrscheinlich, sie noch vor dem Abend ins Bett zu kriegen. Sie hatte noch nicht entschieden, ob ihr das passte oder nicht, aber das war egal. Swain würde sich bestimmt nicht in einen Schmollwinkel verziehen, nur weil sie ihn
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