Moerderische Kuesse
willst du lieber herkommen?«
Sofort war er hellwach.
»Hol mich ab«, bat sie; die Warnung des unbekannten Anrufers, dass Rodrigos Leute überall waren, hatte sie zutiefst verunsichert. Natürlich hatte sie das gewusst und sich trotzdem sicher gefühlt, als sie mit Sonnenbrille und Kopfbedeckung in der U‐Bahn gestanden hatte. Dass sie aufgespürt worden war, machte sie nervös, vor allem weil der Anrufer mit ungewöhnlich vielen Details vertraut zu sein schien. Die meisten Pariser nahmen die Metro, denn der Straßenverkehr war ein einziger Albtraum. Da war es nur logisch, die Züge beobachten zu lassen, ob jemand mitfuhr, auf den ihre Beschreibung passte.
»Je nach Verkehr müsste ich in … irgendwas zwischen einer Stunde und zwei Tagen da sein.«
»Ruf an, wenn du in der Nähe bist, dann komme ich runter«, wies sie ihn an und legte auf, ohne auf seinen Scherz einzugehen.
Sie duschte und zog dann wie üblich Hose und Schnürschuhe an. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass es zum Glück ein sonniger Tag war, weshalb sie mit ihrer Sonnenbrille nicht weiter auffallen würde. Sie steckte das Haar hoch, damit sie es unter einen Hut schieben konnte, und ließ sich anschließend an dem kleinen Esstisch nieder, wo sie gewissenhaft ihre Waffe kontrollierte und zusätzliche Munition in ihrer Handtasche deponierte. Der Anruf hatte sie eindeutig verschreckt, was ihr sonst nicht oft widerfuhr.
»Ich bin in fünf Minuten da«, kündigte Swain eineinviertel Stunden später an.
»Ich warte«, antwortete Lily. Sie schlüpfte in ihren Mantel, setzte Hut und Sonnenbrille auf, griff sich ihre Tasche und eilte nach unten. Als sie aus der Tür trat, hörte sie schon den kraftvollen Motor viel zu schnell die schmale, gewundene Straße hochschnurren, dann schoss die silberne Schnauze hinter der Ecke hervor, und der Wagen kam quietschend vor ihren Füßen zum Stehen. Noch während sie die Autotür von innen zuzog, fuhr er wieder an.
»Was ist denn?« Swain klang ausnahmsweise todernst. Er trug ebenfalls eine Sonnenbrille und fuhr den Wagen schnell, aber konzentriert und ohne irgendwelche Mätzchen zu versuchen.
»Mich hat jemand auf dem Handy angerufen«, erklärte sie ihm, während sie sich anschnallte. »Weil ich die Nummer niemandem außer dir gegeben habe, bin ich drangegangen, ohne erst aufs Display zu schauen. Genützt hätte das sowieso nichts, weil die Nummer unterdrückt wurde. Es war eine elektronisch
verzerrte
Stimme,
aber
eindeutig
eine
Männerstimme, und sie bot mir eine Million Dollar – US‐Dollar
– an, wenn ich das Labor der Nervis in die Luft jage und den verantwortlichen Forscher töte.«
»Erzähl weiter«, befahl er und schaltete vor einer scharfen Kurve einen Gang herunter.
Sie gab das gesamte Gespräch wieder und blieb dabei so detailgetreu, wie es aus dem Gedächtnis nur möglich war. Als sie ihm von dem Vogelgrippevirus erzählte, brummte er kaum hörbar: »Verfluchter Hurensohn.«
Als sie fertig war, fragte er: »Wie lange habt ihr telefoniert?«
»Fünf Minuten etwa. Vielleicht etwas länger.«
»Also lange genug, um deine Position zu bestimmen.
Vielleicht nicht punktgenau, aber grob. Falls es Nervi war, könnte er dein Viertel mit Leuten überziehen, die dein Foto herumzeigen, bis er irgendwann fündig wird.«
»Ich kenne hier noch niemanden. Die Wohnung hat mir jemand untervermietet, der zurzeit im Ausland ist.«
»Das ist bestimmt von Vorteil. Trotzdem vergisst man deine Augen nicht so schnell. Du musst einen Husky unter deinen Vorfahren haben. Jeder, der dir begegnet ist, wird sich an diese Augen erinnern.«
»Danke«, sagte sie trocken.
»Ich finde, du solltest zurückfahren, das Nötigste einpacken und vorerst zu mir ziehen. Zumindest, bis er wieder anruft.
Falls es wirklich Nervi ist und er dein Telefon erneut zu orten versucht, bist du das nächste Mal in einem ganz anderen Viertel, was ihn erst mal aus der Bahn werfen dürfte.«
»Er wird annehmen, ich ziehe von einem Hotel ins nächste.«
»Wenn wir Glück haben. Vielleicht verhindert die Interferenz der Hotelanlage auch, dass jemand dein Signal zurückverfolgt. Große Gebäude können die Elektronik zum Spinnen bringen.«
Bei ihm einziehen. Das hörte sich durchaus vernünftig an; sie wären zusammen, sie brauchte nicht einzuchecken, und wer würde sie schon in einem Nobelhotel vermuten?
Der Plan hatte mehrere Vorteile und nur einen Nachteil, soweit sie erkennen konnte. Es war albern, sich deswegen den Kopf
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