Moerderische Sehnsucht
Ich habe ihn gefragt, was mit ihr passiert ist, aber da hat er sich plötzlich bei mir entschuldigt und ist einfach davonmarschiert.«
» Könnte Lyle uns sagen, wann Pierpont zum letzten Mal etwas an der Kasse abgeholt hat?«
» Diese Frage hatte ich bereits erwartet und ihn deshalb danach gefragt. Er war erst letzte Woche dort.«
» Wie bezahlt er seine Tickets?«
» Lyle zufolge immer bar. Was ebenfalls eher ungewöhnlich ist. Aber wir wollen unseren exzentrischen Freunden gegenüber nicht kleinlich sein und akzeptieren es deshalb. Außerdem trägt er immer einen Smoking in der Oper, was schon wieder ein wenig ungewöhnlich ist. Und seine Gäste tauchen ebenfalls immer im Smoking auf.«
» Sie haben gesagt, er käme immer allein.«
» Ja. Ich meinte, wann immer er sein Ticket jemand anderem überlässt.« Als gute Gastgeberin griff sie nach der Teekanne und schenkte Peabody noch einmal nach. » Hin und wieder habe ich andere Männer in seiner Loge sitzen sehen. Erst letzte Woche bei der Rigoletto-Premiere saß ein Gast auf seinem Platz.«
» Können Sie uns diesen Gast beschreiben?«
» Ah, wie gesagt, er hatte einen Smoking an. War ganz in Schwarz-Weiß. Schwarzer, ausnehmend eleganter Frack, weißes Haar und weiße Haut. Ich erinnere mich noch, dass ich mich gefragt habe, ob er vielleicht ein Verwandter unseres Mr Pierpont ist. Es gab eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden, oder zumindest kam es mir so vor. Ich habe den Mann allerdings weder vor noch nach der Aufführung oder in der Pause irgendwo gesehen. Vielleicht habe ich ihn auch einfach nicht bemerkt.«
» Können Sie uns die Namen der Leute heraussuchen, die in derselben Loge saßen?«
» Es ist nie jemand anderes in der Loge, wenn Pierpont oder einer seiner Gäste eine Aufführung besucht.« Lächelnd hielt Jessica den beiden anderen Frauen den Plätzchenteller hin. » Ein bisschen seltsam, finden Sie nicht auch?«
» Kauft sämtliche Karten für die Loge auf«, stellte Eve fest, als sie wieder im Wagen saßen. » Will niemanden in der Nähe haben, der ihn stört oder ihm vielleicht zu nahe kommt.«
» Also bewachen wir die Oper.« Peabody zog ihr Notizbuch aus der Tasche und trug ein paar Dinge darin ein. » Vielleicht braucht er ja bald die nächste Dosis Kunst.«
» Ja, wir schicken jemanden dorthin. Seine Stiefmutter. Sie war also die Frau, für die die anderen Frauen stehen. Deren Foto er in seiner Brieftasche mit sich herumträgt. Die er idealisiert und gleichzeitig dämonisiert.«
» Jetzt klingen Sie wie Mira.«
» Aber es passt. Er bringt sie wieder und wieder um– wahrscheinlich inszeniert er dadurch immer wieder ihren tatsächlichen Tod. Dann wäscht er sie und legt sie auf einem weißen Laken ab. Ihre Zeit war abgelaufen, deshalb sorgt er dafür, dass auch die Zeit der Frauen abläuft, die er stellvertretend für sie wählt. Das ist es, worum es geht. Wobei der Ursprung in den Innerstädtischen Revolten liegen muss. Sie ist während dieser Zeit gestorben, und ich gehe jede Wette ein, an dem Tag, an dem seine angebliche Frau in den Pierpont-Unterlagen das Zeitliche gesegnet hat.«
» Die Geschichte mit der Frau– der Ehering. Sie war seine Stiefmutter, aber anscheinend in seiner Fantasie auch seine Frau«, theoretisierte Peabody. » Seine Braut. Er vergewaltigt diese anderen Frauen nicht, denn dadurch würde diese Fantasie zerstört. Sie ist nichts Sexuelles, sondern etwas Romantisches. Etwas krankhaft Romantisches.«
» Wer von uns beiden spricht denn jetzt wie Mira? Wir werden nach Frauen suchen, auf die ihre Beschreibung passt, und die an dem Tag, der in den Pierpont-Unterlagen steht, gestorben ist.«
» Während der Innerstädtischen Revolten wurden viele Todesfälle gar nicht registriert.«
» Ihrer wurde es bestimmt.« Eve riss das Lenkrad herum, wechselte die Spur und zwängte sich in eine winzige Lücke im Verkehr. » Dafür hat er gesorgt. Und es muss hier in New York gewesen sein. Weil New York für ihn der Anfang und das Ende ist. Ich bin sicher, dass sie uns, wenn wir sie finden, zu ihm führen wird.«
Eve hörte das Ticken der Uhr in ihrem Kopf. Tick, tick, tick. Und hoffte, Ariel Greenfeld hielte durch.
Sie hatte nicht gewusst, dass es möglich war, derartige Schmerzen zu erleiden und zu überleben. Selbst als er endlich aufhörte– sie hatte schon gedacht, er würde nie mehr aufhören–, brannte und blutete ihr geschundener Leib noch.
Sie hatte geweint, und sie hatte geschrien. Irgendwo in ihrem
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