Moerderische Sehnsucht
dauern.«
» Dann machst du dich am besten umgehend ans Werk.«
Als sie allein in ihrem Arbeitszimmer war, hängte sie die Bilder von den toten Frauen an der Tafel auf, und gleichzeitig las ihr Computer die Berichte ihrer Teammitglieder vor.
Die Tafel war eindeutig zu klein. All die Gesichter, all die Fakten, all die Toten passten dort nicht hin.
» Lieutenant.«
» Computer, Pause«, sagte sie und wandte sich Roarkes Butler zu. » Was? Ich bin bei der Arbeit.«
» Das ist nicht zu übersehen. Roarke hat mich gebeten, Ihnen das hier zu bringen.« Er hielt ihr eine Diskette hin. » Die Liste der Angestellten, um die er mich gebeten hat.«
» Gut.« Sie nahm sie entgegen, legte sie auf ihren Schreibtisch und drehte sich noch einmal um. » Sie sind ja immer noch da. Verschwinden Sie.«
In seinem schwarzen Traueranzug und mit kerzengeradem Rücken blieb er stehen. » Ich kann mich an den Fall erinnern. Ich kann mich an die Berichte über diese Frauen erinnern. Aber die in die Bäuche eingeritzten Zahlen wurden damals nicht erwähnt.«
» Manche Dinge gehen Zivilisten eben ganz einfach nichts an.«
» Er achtet sorgfältig darauf, wie er die Zahlen und Buchstaben formt. So etwas habe ich schon einmal gesehen.«
Jetzt drückte ihr Blick Interesse aus. » Was wollen Sie damit sagen?«
» Nicht genau das, aber etwas Ähnliches. Während der Innerstädtischen Revolten.«
» Meinen Sie die Art, wie er sie gefoltert hat?«
» Nein, nein. Obwohl das natürlich damals auch sehr oft geschah. Folter als klassisches Mittel der Informationsgewinnung oder der Bestrafung. Allerdings wirken die Opfer selten so… gepflegt.«
» Erzählen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß.«
Er sah sie reglos an. » Sie sind zu jung, um die Revolten miterlebt zu haben oder um sich an den Abschaum zu erinnern, der sich nach ihrem Ende in Europa niedergelassen hat. Auf jeden Fall gab es auch damals Dinge, die Zivilisten– wie soll ich es formulieren?– nicht zu wissen brauchten.«
Jetzt war sie ganz Ohr. » Wie zum Beispiel?«
» Während meiner Zeit als Sanitäter wurden die Verletzten und die Toten oft zu uns gebracht. Manchmal ganze Haufen, manchmal auch in Einzelteilen. Wir haben die Toten für die Familien aufbewahrt, falls es noch Familien gab, und falls eine Identifizierung möglich war. Andernfalls wurden sie begraben oder verbrannt. Die Toten, die wir nicht identifizieren konnten, wurden bis zu ihrer Entsorgung nummeriert. Wir haben Buch über sie geführt, sie auf irgendeine Art beschrieben, die Dinge, die sie bei sich hatten, aufgelistet, angegeben, wo sie gestorben waren und so weiter und so fort. Dann haben wir eine Nummer und das Datum oder wenigstens das ungefähre Datum ihres Todes auf ihnen notiert.«
» War das das übliche Prozedere?«
» So haben wir es gemacht, als ich in London war. In anderen Gegenden wurden andere Methoden angewandt, und in den schlimmsten Gebieten gab es nur Massenverbrennungen oder-begräbnisse, ohne dass jemand irgendetwas aufgeschrieben hat.«
Sie trat wieder vor die Tafel und sah sich die eingeritzten Buchstaben und Zahlen an. Es war nicht dasselbe, dachte sie. Aber es war möglicherweise eine Spur.
» Er kennt ihre Namen, aber die sind ihm egal. Ihm geht es um die Zeit. Die muss er notieren. Weil er sie dadurch identifiziert. Er registriert die Frauen nicht mithilfe ihrer Namen, sondern mithilfe der Zeit, die er mit ihnen verbringt. Ich brauche noch eine zweite Tafel.«
» Wie bitte?«
» Ich brauche noch eine zweite Tafel. Auf einer habe ich nicht genug Platz. Haben wir irgendwas im Haus, was ich als Tafel nehmen kann?«
» Ich kann sicher etwas auftreiben.«
» Gut. Tun Sie das.«
Nachdem er wieder gegangen war, trat sie vor ihren Schreibtisch, fügte ihren Notizen seine Informationen über die Innerstädtischen Revolten bei und schrieb ihre eigenen Spekulationen dazu auf.
Soldat, Sanitäter, Arzt. Vielleicht jemand, der ein Familienmitglied oder einen geliebten Menschen verloren hatte… nein, nein, das gefiel ihr nicht. Weshalb sollte er das Symbol eines Menschen, der ihm wichtig gewesen war, foltern und entweihen? Aber falls jemand, den er geliebt hatte, gefoltert, getötet und auf diese Weise kenntlich gemacht worden war, sah er sein Tun vielleicht als Rache oder als verdrehte Form der Wiederauferstehung an.
Vielleicht hatte er auch selber Folterungen überlebt. Misshandlungen durch eine Frau mit braunem Haar, diezwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig gewesen
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