Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
Vom Netzwerk:
Kraft verbraucht und sich zurückgezogen hatte, gingen alle – Fjodor und seine Gastgeber – hinaus in die gewaschene Nacht. Die Geschichten, die Fjodor erzählte, waren noch seltsamer als die von Bison. »Nath, kommst du oder was?«, sagte Max, als sie, Fjodor folgend, im Begriff war, in den Bus einzusteigen, in den Fjodor einstieg. Es war der erste Morgenbus.
    »Heißt du Nath?«, fragte Fjodor, als er sie die Treppe in seinem Haus hinaufsteigen sah. Natascha wollte ihm erklären, dass sie ihn nicht unterbrechen wollte, dass sie seinem Sprechen folgte, viel mehr eigentlich als ihm, aber wie willst du etwas so Dummes erklären.
    »Natascha. Ich heiße Natascha. Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte sie.
    Als sie ein paar Tage später in die Kommune kam, um ihre Sachen zu holen und Janis Bescheid zu sagen, meinte Janis, die gerade eine Ausbildung in einem psychotherapeutischen Zentrum begann: «Nath, dir hat dein Vater immer gefehlt, deshalb magst du ältere Männer. Das ist eine kompensatorische Suche nach einer Vaterfigur.«
    Eine Woche ohne Joint, und schon kennst du Sigmund Freud! – wollte Natascha sagen, schwieg aber und freute sich, dass sich Janis endlich für etwas anderes als die uralte Musik interessierte.
    In der still gewordenen Wohnung bewohnte Fjodor nach wie vor nur sein kleines Zimmer und die Küche. Er bewegte sich neben den dunklen antiken Möbeln, wie er sich zuvor neben seinen Eltern bewegt hatte: vorsichtig. Und ohne Hoffnung, dass diese Leere jemals mit Geräuschen, Gerüchen und Farben aufgefüllt würde, wie er davor ohne Hoffnung lebte, dass er aus dem Irrgarten des Elternhauses hinaus fände. Seine Eltern, die sich seinetwegen geschämt hatten, als er ein ungedruckter Dichter war, ihn, wie er meinte, nur herablassend duldeten, hatten ihn später, als er und seine Gedichte in der von den Verboten befreiten postsowjetischen Literaturlandschaft anerkannt waren, mit Stolz angeschaut, ohne jeden Übergang, als wäre es die natürlichste Sache, eine Meinung gegen die entgegengesetzte zu tauschen. Als sie plötzlich kurz nacheinander gestorben waren, begann er, mit ihren Schatten lange Diskussionen zu führen. Er wusste, dass diese neuen Gesprächspartner nicht seine Eltern waren, sondern Hirngespinste. Aber er vermochte nicht, diese Gespräche zu unterbrechen. Er konnte ohne Hemmung alles erklären, was er früher nicht hatte erklären wollen, weil er immer eine Barriere zwischen sich und den Eltern gesehen hatte, die nun weg war. So wäre es weitergegangen, hätte Natascha diese imaginären Gespräche nicht mit ihrem Zwitschern übertönt. Natascha, ein Bündel Jammer, ein Mädchen, so schmächtig, dass es einem Hähnchen glich, ja nur einer Hähnchenhälfte sogar, die gerupft war, aber unerklärlicherweise noch piepste, das in nichts den wenigen Frauen ähnelte, mit denen er kurze, immer auf irgendeine Art peinliche Beziehungen hatte. Eine Hähnchenhälftenfrau, das Schönste, was ihm je begegnet war. Nach einer Weile schien ihm, er selbst habe sie erfunden und gemeißelt, alles an ihr schien ihm von ihm zu sein, außer einer Narbe oberhalb ihres linken Schulterblatts, die auf ihn sehr aufregend wirkte.
    Natascha ängstigte der viele Platz in Fjodors Wohnung, sie war an Gedränge gewöhnt, die Kommune war für sie die natürliche Fortsetzung ihres Lebens bei Tante und Onkel gewesen, deren Schlafzimmer vor Fernsehschluss das Wohnzimmer war – die drei Cousins teilten sich einen kleinen Raum, durch den sie und ihre zwei Cousinen zu marschieren hatten, wenn sie in der Nacht aus ihrem noch kleineren Kämmerchen auf die Toilette mussten.
    Sie domestizierte den verwilderten Raum und füllte ihn mit dem Klang ihrer Stimme. Sie sprach und sang und Fjodor sah sie an und lächelte.
    In der Nacht schaute sie, nachdem die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, den blätternden Stuck an und stellte sich vor, wie im Schrank die in den Falten der Kleidung gefangenen Motten niesten – von den Orangenschalen, die sie hineingeworfen hatte. Sie traute sich lange Zeit nicht, die Sachen von Fjodors Eltern anzurühren. Erst als die ganze Wohnung von ihrer Stimme erfüllt war, verlagerte sie alles in einen Verschlag hinter der Küche, wo sich der Generationenkram aufschichtete. Nur ein paar Kleidungsstücke brachte sie zu Janis.
    Ihre Verwandten wollten sie besuchen. »Wann habt ihr Hochzeit? Was sollen wir euch schenken?« Sie stellte sich vor, wie sie kommen, wie sie diese Wohnung in Petersburg als ihre

Weitere Kostenlose Bücher