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Mörikes Schlüsselbein

Mörikes Schlüsselbein

Titel: Mörikes Schlüsselbein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olga Martynova
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Chance sehen würden, die Provinz loszuwerden, wie sie kochen, aufräumen, einkaufen würden, wie sie diese geräumigen Räume, deren Ecken und Winkel im rauchigen Nebel der Endlosigkeit zu verschwinden schienen, mit ihren Stimmen füllen und festigen würden, mit dem Schwalbenspeichel der Sippe. Sie stellte sich vor, wie Fjodor daran leiden würde. »Nein, Tante Mascha, nein, das geht nicht, mein Mann duldet fast keine Menschen, ein Dichter halt. Die Hochzeit hatten wir schon, wir hatten gar keine, wir haben uns einfach trauen lassen. Es tut mir leid, er ist ein sehr problematischer Mensch«, sagte sie am Telefon. »Ich habe es nicht einfach«, log sie. »Quatsch«, sagte die Tante, »ich muss deinen Mann sehen, ich komme in einer Woche, gib mir deine Adresse.« »Nein«, sagte Natascha.
    Dann wurde Mascha geboren. Das Gebären war, als werde das ganze All durch ihren Körper gezogen, die Erde mit ihren Gebüschen und Steinen, mit allen bereits gestorbenen und noch nicht gezeugten Wesen, mit den Automobilen, den Telefonen, den Strickjacken und allem, was sonst da ist; der Ozean mit den Delfinen, den U-Booten und den Blaugrünalgen; der Himmel mit seinen Hubschraubern, Marienkäfern, Gimpeln und Raketen; alle Galaxien mit ihren schwarzen Löchern, Sonnen und Milchstraßen, mit ihren kleinen grünen Männchen und Engeln. Kein Wunder, dass das weh tat. Natascha kaufte zwei Koffer Geschenke und fuhr schweren Herzens mit der kleinen Mascha in ihre Heimatstadt, um das Kind seinen Verwandten zu zeigen, zu denen nun auch Ljoscha zählte, der eine ihrer Cousinen geheiratet hatte.
    Ein anderes Problem waren Fjodors Freunde. In seinem Kreis, wo alle einander seit Jahrzehnten kannten, wo sie irgendwelche verschlüsselten schöngeistigen Botschaften von sich gaben, war sie hoffnungslos unpassend. Ihre übertrieben korrekte und höfliche Art zu sprechen wäre hier genauso läppisch gewesen wie in der Kommune ihre Versuche, Slang zu sprechen. So gab sie ihre Russischlehrerinnenmanieren auf und spielte das begeisterte Kommunenmädchen, das sie ebenso wenig war wie die Russischlehrerin. Sie sprach zu viel, erzählte von den Gräberwachsfelsen, von den spirituellen Erfahrungen der Schamanen, traf auf nachsichtige Blicke und konnte dann in der Nacht nicht schlafen, wegen des beschämenden Gefühls, dass sie zu viel und zu dumm geredet hatte. Sie lag und starrte die bestuckte Decke an. Und hörte dem Mottenniesen zu.
    In einer dieser Nächte dachte sie einmal im Halbschlaf an ein georgisches Gericht, das ihre Tante zu allen Geburtstagen zubereitete: Vor dem Braten muss man die Hähnchenhälften platt klopfen, sie so lange schlagen, bis alle Knochen zerbrochen sind und sie zu etwas ganz anderem werden, fast gar nicht mehr als Hähnchenhälften erkennbar. Sie kam sich vor wie eine solche Hähnchenhälfte, die immer wieder zu einer formlosen Schlachtmasse geschlagen und dann aufs Neue modelliert wurde.
    Nach einigen Jahren mit Fjodor hatte sie geglaubt, ihre endgültige Form angenommen zu haben. Und nun kam neues Plattklopfen in Sicht. Wozu? Um was aus ihr zu gestalten? Am liebsten hätte sie Janis angerufen und sie gebeten, mit einem Joint vorbeizukommen. Sie hätte gerne ein Tauschgeschäft gemacht: Fjodor bliebe heil, und dafür wäre sie im Klassenzimmer geblieben und hätte einen Tannenzweig mit Schnee und rotem Gimpelfleck betrachtet, an der Tafel und am Blick der Chemielehrerin vorbei. Oder sie wäre sogar für immer bei Ljoscha geblieben. Aber mit wem willst du da verhandeln.
    Der Notdienst wurde angerufen. Fjodor war im Bett. Mascha war im Laufställchen. Was noch? Tante Mascha anrufen? Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt. Ein Spatz schaute sie von der Fensterbank an, durch die hellgrauen Schneckenspuren des gestrigen Regens.
    PAPIERENES MÄDCHEN / SINGENDER TOD
    Autor Caspar Waidegger saß auf der Terrasse seines Hauses und überlegte sich seine Nobelpreisrede, die er in Stockholm vortragen würde, falls …
    Der Lächerlichkeit dieser Beschäftigung war er sich völlig bewusst. Aber sie war für ihn eine seit langem bewährte Entspannungsmethode. Sein Lieblingspfad aus der Realität. Im Laufe der Jahrzehnte verlor diese Vision ihre Schärfe. Er war weder aufgeregt darüber noch schämte er sich deswegen.
    Je geringer die Wahrscheinlichkeit war, dass er die Rede würde schreiben müssen, desto weniger reizte bzw. nervte sie ihn. Im Gegenteil: Er benutzte diese imaginäre Rede, wenn er eine Ablenkung von den lästigen oder

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